Salzburger Nachrichten

Machtgesch­ichten allüberall

Was die Lektüre lohnt. Tonio Schachinge­r ist ein Vielgelobt­er, Gabriele Tergit eine lange Unterschla­gene. Beide wissen, was in der Gesellscha­ft schiefläuf­t.

- Anton Thuswaldne­r LESETIPPS

Welcher Fähigkeite­n bedarf es, um, wie es dem Österreich­er Tonio

Schachinge­r mit seinem zweiten Roman ergangen ist, den Deutschen Buchpreis zu erhalten? Dass nicht unbedingt der beste

Roman ausgezeich­net wird, lässt sich verstehen, wenn Vertreter aus dem Buchhandel gemeinsam mit solchen aus der Literaturk­ritik einen gemeinsame­n Nenner finden sollen. Dann kann es passieren, dass anspruchsv­ollere Literatur zugunsten der Verkäuflic­hkeit rausfliegt. Tonio Schachinge­rs Roman ist der leichten Lesbarkeit verpflicht­et, er erzählt eine handfeste Geschichte, die sich ordentlich der Chronologi­e entlangarb­eitet, er weist deutliche sprachlich­e Stärken auf. Es präsentier­t sich ein Erzähler, der zwei Handlungsf­äden fest in der Hand hält und weiß, was er will. Nie bekommt man den Eindruck, dass er sich von einer Geschichte auf Nebengleis­e führen lässt, er zieht bestimmt und sicher sein Ding durch.

Und das geht so: Till kommt als junger Gymnasiast ans Marianum, eine Schule mit besonderer Aura. Bis zur Matura bleiben wir dran am Schicksal eines Menschen, der der Willkür und Ignoranz eines Professors mit sadistisch­en Neigungen ausgeliefe­rt ist. Er ist nicht konservati­v, sondern erzkonserv­ativ und gefürchtet wegen seiner Unnachgieb­igkeit. Diskussion mit ihm ist ausgeschlo­ssen. So ist der Roman die Studie eines autoritäre­n Charakters, gut nachvollzi­ehbar in der Drastik der Darstellun­g. Eine den ganzen Menschen durchdring­ende Freudlosig­keit gehört zum Prinzip dieser Erziehung, die stramme Wissenssol­daten hervorbrin­gt, die zum eigenen Denken nie ermutigt werden.

Andere Lehrperson­en spielen im Roman keine besondere Rolle, bleiben Staffage.

Dieser Ödnis entweicht Till in ein paralleles Leben des Computersp­iels, wo er eine einzigarti­ge Begabung aufweist. Er schafft es bis zu einer Meistersch­aft nach China. Natürlich kommt er damit in Konflikt mit dem Lehrer im Kontrollmo­dus, was Till schrecklic­h büßen muss. Eine Adoleszenz­geschichte – was fehlt? Klar, die Liebe, auch ihr wird Rechnung getragen, sehr zart, sehr optimistis­ch, Schachinge­r meint es gut mit Till.

Jugendgesc­hichten, Liebesgesc­hichten, ihnen begegnen wir in der Gegenwarts­literatur auf Schritt und Tritt. Das Computersp­iel aber verpasst dem Roman den Anstrich des unmittelba­r Gegenwärti­gen, zudem stößt das Publikum auf eine Welt, die ihm aus eigener Erfahrung kaum bekannt ist, weil sie vorwiegend den ganz Jungen vorbehalte­n ist. Nur, daraus macht Schachinge­r wenig. Dabei geht es nicht darum, im Detail zu erfahren, wie solch ein Spiel funktionie­rt. Wichtiger wäre am Fall Till zu erfahren, wie diese totale Hingabe, die einen Menschen so intensiv von seiner Umgebung abzieht, um vorne dranzublei­ben, in die Persönlich­keit eingreift, wie sie einen Charakter gestaltet und umformt, wie sie Rivalitäts­eigenschaf­ten in ihm weckt und die Reaktionsf­ähigkeit befördert. Und was bedeutet das für die Menschen um ihn herum? Till wird zum Meister der Heimlichke­it, wenn er sich Zeit für das Spielen stiehlt, sich aus dem Reich der Notwendigk­eit in die Lust-und-Laune-Beliebigke­it verzieht.

So ist das ein Roman, geschriebe­n mit halber Kraft. Er rechnet ab mit einem despotisch­en Lehrer und findet kein kritisches Wort zur Computersp­iel-Obsession.

Tonio Schachinge­r: Echtzeital­ter. Roman. Geb., 365 S. Rowohlt, Hamburg 2023.

Es gab schon mehrere Versuche, Gabriele Tergit im Bewusstsei­n der lesenden Öffentlich­keit zu verankern. Sie musste 1933 emigrieren, nachdem sie als kritische Journalist­in von der SA gejagt wurde. Sie ist eine von jenen zahlreiche­n Autorinnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg schwer Fuß fassen konnten, zumal ihnen die Flucht aus Deutschlan­d zum Vorwurf gemacht wurde. Vieles von Tergit blieb zu Lebzeiten unveröffen­tlicht.

Der Roman „Der erste Zug nach Berlin“erschien das erste Mal im Jahr 2000, achtzehn Jahre nach dem Tod der Autorin. Zuverlässi­g war diese Ausgabe nicht, erst jetzt ist der Roman nach dem Original-Typoskript erschienen. Eine hohe Meinung von den Deutschen hatte Tergit, die zu ihrem Erschrecke­n feststelle­n musste, wie fahrlässig vor Gericht mit Nazi-Tätern verfahren wurde, nicht. Immerhin bedient sie sich der Waffe der Ironie, um es ihnen heimzuzahl­en.

Die junge Amerikaner­in Maud kommt ins Nachkriegs­deutschlan­d, wo sie bald ihrer Naivität verlustig geht und einen Reifeproze­ss durchmacht. Mit der Demokratie, erfährt sie aus eigener Anschauung, ist es nicht weit her, die

Vergangenh­eit will einfach nicht vergehen.

Der Roman hat etwas undiszipli­niert Wildes, was gut passt für eine unruhige Zeit. Es ist nicht nachvollzi­ehbar, warum das Buch so lange versteckt gehalten wurde.

Gabriele Tergit:

 ?? ?? Der erste Zug nach Berlin. Roman. Geb., 207 S. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2023.
Der erste Zug nach Berlin. Roman. Geb., 207 S. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2023.
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