Machtgeschichten allüberall
Was die Lektüre lohnt. Tonio Schachinger ist ein Vielgelobter, Gabriele Tergit eine lange Unterschlagene. Beide wissen, was in der Gesellschaft schiefläuft.
Welcher Fähigkeiten bedarf es, um, wie es dem Österreicher Tonio
Schachinger mit seinem zweiten Roman ergangen ist, den Deutschen Buchpreis zu erhalten? Dass nicht unbedingt der beste
Roman ausgezeichnet wird, lässt sich verstehen, wenn Vertreter aus dem Buchhandel gemeinsam mit solchen aus der Literaturkritik einen gemeinsamen Nenner finden sollen. Dann kann es passieren, dass anspruchsvollere Literatur zugunsten der Verkäuflichkeit rausfliegt. Tonio Schachingers Roman ist der leichten Lesbarkeit verpflichtet, er erzählt eine handfeste Geschichte, die sich ordentlich der Chronologie entlangarbeitet, er weist deutliche sprachliche Stärken auf. Es präsentiert sich ein Erzähler, der zwei Handlungsfäden fest in der Hand hält und weiß, was er will. Nie bekommt man den Eindruck, dass er sich von einer Geschichte auf Nebengleise führen lässt, er zieht bestimmt und sicher sein Ding durch.
Und das geht so: Till kommt als junger Gymnasiast ans Marianum, eine Schule mit besonderer Aura. Bis zur Matura bleiben wir dran am Schicksal eines Menschen, der der Willkür und Ignoranz eines Professors mit sadistischen Neigungen ausgeliefert ist. Er ist nicht konservativ, sondern erzkonservativ und gefürchtet wegen seiner Unnachgiebigkeit. Diskussion mit ihm ist ausgeschlossen. So ist der Roman die Studie eines autoritären Charakters, gut nachvollziehbar in der Drastik der Darstellung. Eine den ganzen Menschen durchdringende Freudlosigkeit gehört zum Prinzip dieser Erziehung, die stramme Wissenssoldaten hervorbringt, die zum eigenen Denken nie ermutigt werden.
Andere Lehrpersonen spielen im Roman keine besondere Rolle, bleiben Staffage.
Dieser Ödnis entweicht Till in ein paralleles Leben des Computerspiels, wo er eine einzigartige Begabung aufweist. Er schafft es bis zu einer Meisterschaft nach China. Natürlich kommt er damit in Konflikt mit dem Lehrer im Kontrollmodus, was Till schrecklich büßen muss. Eine Adoleszenzgeschichte – was fehlt? Klar, die Liebe, auch ihr wird Rechnung getragen, sehr zart, sehr optimistisch, Schachinger meint es gut mit Till.
Jugendgeschichten, Liebesgeschichten, ihnen begegnen wir in der Gegenwartsliteratur auf Schritt und Tritt. Das Computerspiel aber verpasst dem Roman den Anstrich des unmittelbar Gegenwärtigen, zudem stößt das Publikum auf eine Welt, die ihm aus eigener Erfahrung kaum bekannt ist, weil sie vorwiegend den ganz Jungen vorbehalten ist. Nur, daraus macht Schachinger wenig. Dabei geht es nicht darum, im Detail zu erfahren, wie solch ein Spiel funktioniert. Wichtiger wäre am Fall Till zu erfahren, wie diese totale Hingabe, die einen Menschen so intensiv von seiner Umgebung abzieht, um vorne dranzubleiben, in die Persönlichkeit eingreift, wie sie einen Charakter gestaltet und umformt, wie sie Rivalitätseigenschaften in ihm weckt und die Reaktionsfähigkeit befördert. Und was bedeutet das für die Menschen um ihn herum? Till wird zum Meister der Heimlichkeit, wenn er sich Zeit für das Spielen stiehlt, sich aus dem Reich der Notwendigkeit in die Lust-und-Laune-Beliebigkeit verzieht.
So ist das ein Roman, geschrieben mit halber Kraft. Er rechnet ab mit einem despotischen Lehrer und findet kein kritisches Wort zur Computerspiel-Obsession.
Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Roman. Geb., 365 S. Rowohlt, Hamburg 2023.
Es gab schon mehrere Versuche, Gabriele Tergit im Bewusstsein der lesenden Öffentlichkeit zu verankern. Sie musste 1933 emigrieren, nachdem sie als kritische Journalistin von der SA gejagt wurde. Sie ist eine von jenen zahlreichen Autorinnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg schwer Fuß fassen konnten, zumal ihnen die Flucht aus Deutschland zum Vorwurf gemacht wurde. Vieles von Tergit blieb zu Lebzeiten unveröffentlicht.
Der Roman „Der erste Zug nach Berlin“erschien das erste Mal im Jahr 2000, achtzehn Jahre nach dem Tod der Autorin. Zuverlässig war diese Ausgabe nicht, erst jetzt ist der Roman nach dem Original-Typoskript erschienen. Eine hohe Meinung von den Deutschen hatte Tergit, die zu ihrem Erschrecken feststellen musste, wie fahrlässig vor Gericht mit Nazi-Tätern verfahren wurde, nicht. Immerhin bedient sie sich der Waffe der Ironie, um es ihnen heimzuzahlen.
Die junge Amerikanerin Maud kommt ins Nachkriegsdeutschland, wo sie bald ihrer Naivität verlustig geht und einen Reifeprozess durchmacht. Mit der Demokratie, erfährt sie aus eigener Anschauung, ist es nicht weit her, die
Vergangenheit will einfach nicht vergehen.
Der Roman hat etwas undiszipliniert Wildes, was gut passt für eine unruhige Zeit. Es ist nicht nachvollziehbar, warum das Buch so lange versteckt gehalten wurde.
Gabriele Tergit: