Wer „Teflon-Mark“nachfolgen könnte
Die Niederlande wählen nach dem Aus der Regierung von Mark Rutte ein neues Parlament. Im Rennen um Platz eins zeichnet sich ein Dreikampf ab.
DEN HAAG, BRÜSSEL. In den Niederlanden neigt sich mit der Parlamentswahl am Mittwoch eine Ära dem Ende zu. Der rechtsliberale Ministerpräsident Mark Rutte zieht nach 13 Jahren an der Staatsspitze einen Schlussstrich unter seine Politkarriere. Länger im Amt ist innerhalb der Europäischen Union nur der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán. Der 56-Jährige scheidet vorzeitig aus – die von ihm angeführte Vier-Parteien-Koalition zerbrach nach nicht einmal zwei Jahren an einem härteren Asylkurs, den er einschlagen wollte. Konkret ging es um Beschränkungen des Familiennachzugs von Geflüchteten.
Dilan Yeşilgöz ist an die Spitze von Ruttes Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) aufgerückt. Die Justizministerin hat bisher die restriktivere Migrationspolitik der Liberaldemokraten verantwortet. Den Kurs will die Tochter eines türkisch-kurdischen Menschenrechtsaktivisten, die als Kind mit ihrer Familie in den Niederlanden Asyl erhalten hatte, nach dem Rückzug des Ministerpräsidenten fortsetzen. Zugleich schloss sie eine Zusammenarbeit mit dem Rechtspopulisten Geert Wilders nicht aus. Der sprach von einer „guten Nachricht“– und schlug sanftere Töne als gewohnt an. Mit islamfeindlichen Äußerungen hielt er sich auffallend zurück. Wilders’ Partei für die Freiheit (PVV) habe sich im Wahlkampf positioniert, „bereit für die Regierung zu sein“, sagt Denny van der Vlist, Politikwissenschafter an der Universität Leiden.
Dass die VVD den Posten des Ministerpräsidenten weiter für sich beanspruchen kann, ist nicht ausgemacht. Die Umfragen sehen einen Dreikampf mit dem Wahlbündnis der Sozialdemokraten und Grünen und dem „Neuen Gesellschaftsvertrag“(NSC). Die jüngsten Erhebungen sehen die drei Parteien bei je 16 bis 18 Prozent. Wenngleich Umfragen in den Niederlanden mit besonderer Vorsicht zu genießen sind. Weil es keine Prozenthürde für den Einzug in die Zweite Kammer des Parlaments in Den Haag gibt, ist das Angebot auf dem Stimmzettel traditionell groß – bei der Wahl 2021 haben 17 Parteien zumindest einen der 150 Sitze ergattert.
Van der Vlist spricht von einer „speziellen Wahl“, zumal sich mit der neu gegründeten Partei NSC die Vorzeichen geändert hätten. Die
erst wenige Monate alte Erfindung des Ex-Christdemokraten Pieter Omtzigt hat dem Wahlkampf ihren Stempel aufgedrückt. Und das, obwohl die Partei ein wenig massentaugliches Thema in den Fokus ihrer Kampagne gestellt hat: eine Neuaufstellung der Verwaltung.
„Viele finden, dass das Land nicht gut funktioniert, dass der Staat nicht mehr liefert: bei Polizei, Schulen, Gesundheitssystem“, sagte der Amsterdamer Meinungsforscher Peter Kanne der Deutschen Presse-Agentur. Befeuert wurde diese Annahme vor rund drei Jahren durch eine Affäre um Kinderbeihilfen, als die Steuerbehörden mehr als 20.000 Eltern wegen Formfehlern bei der Antragstellung zu Strafen von Zehntausenden Euro verdonnerten – 2021 trat Ruttes Regierung deswegen zurück. Es war nicht der einzige Fehltritt, der am Langzeit-Regierungschef regelrecht abperlte. Nicht umsonst erhielt er den Beinamen „Teflon-Mark“. Ob Omtzigt ihn im Falle eines Wahlerfolgs beerben würde, ließ er sich bisher offen: „Mir geht es um den Inhalt, nicht um die Macht.“
Wesentlich machtbewusster agiert der Sozialdemokrat Frans Timmermans. Der vormalige Vizepräsident der EU-Kommission hat an der Spitze des rot-grünen Wahlbündnisses keinen Zweifel daran gelassen, dass er in den Ring gestiegen ist, um Ministerpräsident zu werden. Timmermans, Architekt des Green Deals der EU, will nun in seinem Heimatland beim Klimaschutz Akzente setzen. Er hat angekündigt, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 65 Prozent senken zu wollen – „sein“Green Deal fordert EU-weit ein Minus von 55 Prozent. Timmermans habe sich im Wahlkampf staatsmännisch und über weite Strecken wenig konfrontativ präsentiert, sagt Politologe van der Vlist. Davon sei er zuletzt angesichts sinkender Umfragewerte umso mehr abgewichen, je näher der Wahltag gerückt sei.
Dass Timmermans mit dem Klimaschutz auf ein Reizthema setzt, untermauert der Aufstieg der Bauern-Bürger-Bewegung (BBB). Die Protestpartei tritt seit 2019 gegen Naturschutzmaßnahmen zulasten der Landwirtschaft auf. Zuvorderst gegen jene, die die massive Stickstoffbelastung in den Böden infolge von Überdüngung reduzieren sollen. Um dem Problem Herr zu werden, wollte die Regierung Tausende Bauernhöfe aufkaufen, um den Viehbestand zu verringern.
Mit ihrem Widerstand fand die BBB unter Parteichefin Caroline van der Plas auch abseits der Kernklientel Gehör. Bei den Provinzwahlen im März fuhr sie einen unerwartet deutlichen Erfolg ein. Allerdings ist diese Dynamik im laufenden Wahlkampf verpufft. Der Partei sei ihr Hauptthema abhandengekommen, sagt van der Vlist. „Sie war nicht in der Lage zu mobilisieren, weil sie es nicht auf die Agenda bekommen haben.“Stattdessen seien die Migration, die Inflation und die hohen Wohnkosten dominant gewesen. Auch der NSC habe der BBB zugesetzt: „Da ist eine neue Partei, die um dieselben Stimmen buhlt.“