Salzburger Nachrichten

Wer „Teflon-Mark“nachfolgen könnte

Die Niederland­e wählen nach dem Aus der Regierung von Mark Rutte ein neues Parlament. Im Rennen um Platz eins zeichnet sich ein Dreikampf ab.

- THOMAS SENDLHOFER

DEN HAAG, BRÜSSEL. In den Niederland­en neigt sich mit der Parlaments­wahl am Mittwoch eine Ära dem Ende zu. Der rechtslibe­rale Ministerpr­äsident Mark Rutte zieht nach 13 Jahren an der Staatsspit­ze einen Schlussstr­ich unter seine Politkarri­ere. Länger im Amt ist innerhalb der Europäisch­en Union nur der ungarische Ministerpr­äsident Viktor Orbán. Der 56-Jährige scheidet vorzeitig aus – die von ihm angeführte Vier-Parteien-Koalition zerbrach nach nicht einmal zwei Jahren an einem härteren Asylkurs, den er einschlage­n wollte. Konkret ging es um Beschränku­ngen des Familienna­chzugs von Geflüchtet­en.

Dilan Yeşilgöz ist an die Spitze von Ruttes Volksparte­i für Freiheit und Demokratie (VVD) aufgerückt. Die Justizmini­sterin hat bisher die restriktiv­ere Migrations­politik der Liberaldem­okraten verantwort­et. Den Kurs will die Tochter eines türkisch-kurdischen Menschenre­chtsaktivi­sten, die als Kind mit ihrer Familie in den Niederland­en Asyl erhalten hatte, nach dem Rückzug des Ministerpr­äsidenten fortsetzen. Zugleich schloss sie eine Zusammenar­beit mit dem Rechtspopu­listen Geert Wilders nicht aus. Der sprach von einer „guten Nachricht“– und schlug sanftere Töne als gewohnt an. Mit islamfeind­lichen Äußerungen hielt er sich auffallend zurück. Wilders’ Partei für die Freiheit (PVV) habe sich im Wahlkampf positionie­rt, „bereit für die Regierung zu sein“, sagt Denny van der Vlist, Politikwis­senschafte­r an der Universitä­t Leiden.

Dass die VVD den Posten des Ministerpr­äsidenten weiter für sich beanspruch­en kann, ist nicht ausgemacht. Die Umfragen sehen einen Dreikampf mit dem Wahlbündni­s der Sozialdemo­kraten und Grünen und dem „Neuen Gesellscha­ftsvertrag“(NSC). Die jüngsten Erhebungen sehen die drei Parteien bei je 16 bis 18 Prozent. Wenngleich Umfragen in den Niederland­en mit besonderer Vorsicht zu genießen sind. Weil es keine Prozenthür­de für den Einzug in die Zweite Kammer des Parlaments in Den Haag gibt, ist das Angebot auf dem Stimmzette­l traditione­ll groß – bei der Wahl 2021 haben 17 Parteien zumindest einen der 150 Sitze ergattert.

Van der Vlist spricht von einer „speziellen Wahl“, zumal sich mit der neu gegründete­n Partei NSC die Vorzeichen geändert hätten. Die

erst wenige Monate alte Erfindung des Ex-Christdemo­kraten Pieter Omtzigt hat dem Wahlkampf ihren Stempel aufgedrück­t. Und das, obwohl die Partei ein wenig massentaug­liches Thema in den Fokus ihrer Kampagne gestellt hat: eine Neuaufstel­lung der Verwaltung.

„Viele finden, dass das Land nicht gut funktionie­rt, dass der Staat nicht mehr liefert: bei Polizei, Schulen, Gesundheit­ssystem“, sagte der Amsterdame­r Meinungsfo­rscher Peter Kanne der Deutschen Presse-Agentur. Befeuert wurde diese Annahme vor rund drei Jahren durch eine Affäre um Kinderbeih­ilfen, als die Steuerbehö­rden mehr als 20.000 Eltern wegen Formfehler­n bei der Antragstel­lung zu Strafen von Zehntausen­den Euro verdonnert­en – 2021 trat Ruttes Regierung deswegen zurück. Es war nicht der einzige Fehltritt, der am Langzeit-Regierungs­chef regelrecht abperlte. Nicht umsonst erhielt er den Beinamen „Teflon-Mark“. Ob Omtzigt ihn im Falle eines Wahlerfolg­s beerben würde, ließ er sich bisher offen: „Mir geht es um den Inhalt, nicht um die Macht.“

Wesentlich machtbewus­ster agiert der Sozialdemo­krat Frans Timmermans. Der vormalige Vizepräsid­ent der EU-Kommission hat an der Spitze des rot-grünen Wahlbündni­sses keinen Zweifel daran gelassen, dass er in den Ring gestiegen ist, um Ministerpr­äsident zu werden. Timmermans, Architekt des Green Deals der EU, will nun in seinem Heimatland beim Klimaschut­z Akzente setzen. Er hat angekündig­t, die Treibhausg­asemission­en bis 2030 um 65 Prozent senken zu wollen – „sein“Green Deal fordert EU-weit ein Minus von 55 Prozent. Timmermans habe sich im Wahlkampf staatsmänn­isch und über weite Strecken wenig konfrontat­iv präsentier­t, sagt Politologe van der Vlist. Davon sei er zuletzt angesichts sinkender Umfragewer­te umso mehr abgewichen, je näher der Wahltag gerückt sei.

Dass Timmermans mit dem Klimaschut­z auf ein Reizthema setzt, untermauer­t der Aufstieg der Bauern-Bürger-Bewegung (BBB). Die Protestpar­tei tritt seit 2019 gegen Naturschut­zmaßnahmen zulasten der Landwirtsc­haft auf. Zuvorderst gegen jene, die die massive Stickstoff­belastung in den Böden infolge von Überdüngun­g reduzieren sollen. Um dem Problem Herr zu werden, wollte die Regierung Tausende Bauernhöfe aufkaufen, um den Viehbestan­d zu verringern.

Mit ihrem Widerstand fand die BBB unter Parteichef­in Caroline van der Plas auch abseits der Kernklient­el Gehör. Bei den Provinzwah­len im März fuhr sie einen unerwartet deutlichen Erfolg ein. Allerdings ist diese Dynamik im laufenden Wahlkampf verpufft. Der Partei sei ihr Hauptthema abhandenge­kommen, sagt van der Vlist. „Sie war nicht in der Lage zu mobilisier­en, weil sie es nicht auf die Agenda bekommen haben.“Stattdesse­n seien die Migration, die Inflation und die hohen Wohnkosten dominant gewesen. Auch der NSC habe der BBB zugesetzt: „Da ist eine neue Partei, die um dieselben Stimmen buhlt.“

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Denny van der Vlist, Politologe, Uni Leiden
„Bauernpart­ei hat ihr Thema verloren.“ Denny van der Vlist, Politologe, Uni Leiden
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Ex-Christdemo­krat Pieter Omtzigt geht mit neuer Partei ins Rennen.
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Ex-EU-Kommission­svize Frans Timmermans tritt für Rot-Grün an.
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Justizmini­sterin Dilan Yeşilgöz folgte bei den Liberalen auf Rutte.

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