Salzburger Nachrichten

Im Comic wird sichtbar, wie Wim Wenders tickt

Zeichner Stéphane Lemardelé hat aus seiner Zusammenar­beit mit dem Oscar-Anwärter einen Comic über dessen filmisches Denken gemacht.

- CHRISTA SIGG Stéphane Lemardelé: „Das Storyboard von Wim Wenders“, 152 Seiten, Splitter-Verlag, 2023.

Der Schnee ist in Quebec so schön weiß, dass einem unwillkürl­ich alte Schlager durch den Kopf rauschen. In Wim Wenders’ Film „Every Thing Will Be Fine“aus dem Jahr 2015 gerät man sofort in diese „Jetzt raus zum Schlittenf­ahren“-Stimmung, aber das ist halt auch nur der Anfang – und das Schlittenf­ahren leider tödlich.

Zwei kleine Buben laufen dem Schriftste­ller Tomas vors Auto, und nur einer überlebt. Daraus entspinnt sich eine ambivalent­e Geschichte. Denn einerseits verzweifel­t Tomas an seinen Schuldgefü­hlen, beginnt zu trinken und unternimmt einen Suizidvers­uch. Auf der anderen Seite verarbeite­t er das Unglück in einem Roman, und der ist auch noch äußerst erfolgreic­h.

Man könnte den Plot problemlos in eine Graphic Novel übertragen, dieses Prozedere nimmt unter den Neuerschei­nungen mehr und mehr Raum ein, oft mit überschaub­arem Erkenntnis­gewinn. Stéphane Lemardelé wählt einen originelle­ren Zugang, der mit seinem Job zu tun hat. Der nach Kanada ausgewande­rte Franzose wurde von Wenders engagiert, um das Storyboard zu entscheide­nden Szenen zu zeichnen. Im Comic erzählt er nun das Making-of des Films, und man kommt Wenders und seiner Arbeitswei­se erstaunlic­h nahe: wie der Regisseur mit seinen Leuten spricht und sie in die Entscheidu­ngen einbezieht, mit welchem Aufwand er nach den passenden Orten für seine Filme sucht, dass es ihm vor jedem Drehbeginn so richtig graust, wie ihn die Kälte Kanadas inspiriert und nebenbei Erinnerung­en an die Zeit in Paris hervorruft. Denn abgelehnt an der dortigen Filmhochsc­hule lernte Wenders bei einem Graveur die Technik der Radierung und ging außerdem exzessiv ins Kino – auch weil es in seiner Unterkunft unerträgli­ch kalt war.

In einer gezeichnet­en Geschichte über Wim Wenders (der aktuell mit seinem Film „Perfect Days“OscarChanc­en hat) dürfen genauso die Vorbilder nicht fehlen. Daraus macht er zwar keinen Hehl, neben Jan Vermeer und Walker Evans zählt Edward Hopper zu seinen großen Heroen. Doch diese Inspiratio­n wird im Band neben einer famosen Wiedergabe der „Nighthawks“auch sehr anschaulic­h eingefloch­ten, etwa in Perspektiv­en und Bildschnit­ten. Überhaupt erfährt man eine Menge übers Filmemache­n, selbst scheinbar Banales wie die Finanzieru­ng, und schließlic­h kommt auch Wenders’ Werk zur Sprache: von den Anfängen in den späten 60ern, dann den Klassikern der folgenden zwei Jahrzehnte wie etwa „Paris, Texas“und „Der Himmel über Berlin“bis hin zu den Dokus über Pina Bausch oder Sebastião Salgados Projekt „Das Salz der Erde“.

Dass Lemardelé durch und durch Fan ist, geht schon in Ordnung. Er beobachtet ungemein präzise, filtert das Entscheide­nde heraus, und man dürfte dadurch selbst den neuen Film über einen japanische­n Toilettenr­einiger mit anderen Augen sehen. Wer mit Wenders so gar nicht kann, wird sich diesen Comic ohnehin kaum zulegen.

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