Renaturierung steht auf der Kippe
Das EU-Gesetz zur Wiederherstellung kaputter Ökosysteme droht auf den letzten Metern zu scheitern – kein Einzelfall mehr.
Chaotische Zustände wie am 1. Februar sind am Donnerstag und am Freitag in Brüssel ausgeblieben. Protestierende Bauern fuhren damals beim Sondergipfel der 27 Staats- und Regierungschefs mit mehr als 1000 Traktoren auf und legten das EU-Viertel lahm. Das Treffen diese Woche blieb ungestört. Was daran gelegen sein dürfte, dass die wütenden Landwirte eines ihrer Ziele erreicht haben: Ihre Anliegen fanden sich seit Jahren wieder auf der Tagesordnung eines EU-Gipfels. Der bekannte sich am Freitag zu weiteren Erleichterungen für die Landwirtschaft: Bürokratische Vorgaben sollen gelockert, weitere finanzielle Unterstützungsmaßnahmen ausgearbeitet werden.
Abseits des Gipfels finden Proteste und Lobbyaktivitäten auch an anderen Schauplätzen Gehör: Das von Agrarvertretern unter Beschuss genommene Renaturierungsgesetz, dessen Ziel die umfassende Wiederherstellung kaputter Ökosysteme ist, steht auf der Kippe. Das EU-Parlament hat zwar Ende Februar seine finale Zustimmung erteilt zum Kompromiss mit den Mitgliedsstaaten, der im Vergleich zum Vorschlag der EU-Kommission bereits deutlich verwässert worden war. Aber unter den Ländern regt sich Widerstand. Nach wie vor ist keine Mehrheit für die Verordnung in Sicht – die Abstimmung darüber wird seit Wochen hinausgezögert.
Für Irritationen sorgte, dass ausgerechnet der belgische Premierminister Alexander de Croo im Hintergrund daran arbeiten soll, das Gesetz auf den letzten Metern zu vereiteln. Das berichtete die belgische Tageszeitung „De Standaard“. Das wäre insofern verwunderlich, als Belgien gerade den Ratsvorsitz innehat – dem Land käme damit eigentlich die Rolle des Vermittlers bei der Kompromissfindung zu. Zu den Gegnern des Gesetzes zählt Österreich. Umweltministerin Leonore
Gewessler (Grüne) müsste sich bei einem Votum auf Geheiß der Bundesländer, die für den Naturschutz zuständig sind, enthalten – was einer Ablehnung gleichkommt.
Der SPÖ-Parlamentarier Günther Sidl verfolgt die Entwicklungen kritisch. Sollte das Gesetz scheitern, wäre das nicht nur sachlich eine Fehlentscheidung, sondern „auch eine Gefahr für den EU-Gesetzgebungsprozess als Ganzes“. Sidl verweist auf den bereits gefundenen Kompromiss zwischen Rat und Parlament. Er zieht einen Vergleich zum Sport: „Bei einem Fußballspiel kann man auch nicht Wochen nach dem Abpfiff noch einmal über das Ergebnis diskutieren. Und wenn erzielte Einigungen jetzt vor der Wahl nach der Reihe nicht mehr halten, stellt das den gesamten demokratischen Prozess infrage, das Vertrauen
zwischen den gesetzgebenden Institutionen, EU-Parlament und Rat, würde schwer beschädigt. Das wäre ein schwarzer Tag für die europäische Demokratie.“
Dass auf den letzten Metern noch erbittert um das Renaturierungsgesetz gerungen wird, ist symptomatisch für eine neue Praxis, die sich in den Brüsseler Entscheidungsprozessen seit einem Jahr zunehmend eingeschleift hat. Den Präzedenzfall dafür hat Deutschland, genauer die FDP, geschaffen. Eigentlich hätten ab 2035 keine neuen Autos mit Verbrennungsmotor zugelassen werden sollen – darüber hatten sich der Rat der EU-Staaten und das Parlament verständigt. Im März 2023 gab es nach deutschem Widerstand, dem sich Österreich angeschlossen hatte, einen adaptierten Kompromiss: Verbrenner-Neuwagen sollen auch nach 2035 auf die Straße kommen, wenn diese mit klimaneutralen E-Fuels betankt werden.
In der Vergangenheit galten finale Abstimmungen nach einer Einigung zwischen Rat und Parlament als Formsache. Die Causa Verbrennungsmotor gilt als Zäsur. Zuletzt waren derartige Tendenzen beim Lieferkettengesetz zu beobachten, das Großunternehmen dazu verpflichten soll, ihre Zulieferer zu überprüfen, ob diese Menschenrechte einhalten, auf Kinderarbeit verzichten und im Einklang mit Umweltstandards und Klimazielen wirtschaften. Erneut legten sich die Deutschen nach Abschluss der Verhandlungen auf Geheiß der FDP quer – diese Vorgehensweise sorgt unter Diplomaten für Kopfschütteln. Das „German Vote“ist im Brüsseler EU-Jargon mittlerweile zum geflügelten Wort für Unzuverlässigkeit geworden. Die Richtlinie wurde von den Staaten nachträglich noch deutlich aufgeweicht.
Einen Verhinderungsversuch gab es kürzlich auch bei den EU-Vorschriften zur Plattformarbeit, die die Rechte von Menschen stärken sollen, die etwa für Lieferdienste tätig sind. Hier kam es beim finalen Votum zu einem Novum: Die größten EU-Staaten Deutschland und Frankreich, gegen die gewöhnlich kaum qualifizierte Mehrheiten zustande kommen, scheiterten mit ihrem Nein und wurden überstimmt.
„Im Fußball kann man auch nicht nach Abpfiff das Ergebnis diskutieren.“Günther Sidl, EU-Abgeordneter