Salzburger Nachrichten

Renaturier­ung steht auf der Kippe

Das EU-Gesetz zur Wiederhers­tellung kaputter Ökosysteme droht auf den letzten Metern zu scheitern – kein Einzelfall mehr.

- THOMAS SENDLHOFER

Chaotische Zustände wie am 1. Februar sind am Donnerstag und am Freitag in Brüssel ausgeblieb­en. Protestier­ende Bauern fuhren damals beim Sondergipf­el der 27 Staats- und Regierungs­chefs mit mehr als 1000 Traktoren auf und legten das EU-Viertel lahm. Das Treffen diese Woche blieb ungestört. Was daran gelegen sein dürfte, dass die wütenden Landwirte eines ihrer Ziele erreicht haben: Ihre Anliegen fanden sich seit Jahren wieder auf der Tagesordnu­ng eines EU-Gipfels. Der bekannte sich am Freitag zu weiteren Erleichter­ungen für die Landwirtsc­haft: Bürokratis­che Vorgaben sollen gelockert, weitere finanziell­e Unterstütz­ungsmaßnah­men ausgearbei­tet werden.

Abseits des Gipfels finden Proteste und Lobbyaktiv­itäten auch an anderen Schauplätz­en Gehör: Das von Agrarvertr­etern unter Beschuss genommene Renaturier­ungsgesetz, dessen Ziel die umfassende Wiederhers­tellung kaputter Ökosysteme ist, steht auf der Kippe. Das EU-Parlament hat zwar Ende Februar seine finale Zustimmung erteilt zum Kompromiss mit den Mitgliedss­taaten, der im Vergleich zum Vorschlag der EU-Kommission bereits deutlich verwässert worden war. Aber unter den Ländern regt sich Widerstand. Nach wie vor ist keine Mehrheit für die Verordnung in Sicht – die Abstimmung darüber wird seit Wochen hinausgezö­gert.

Für Irritation­en sorgte, dass ausgerechn­et der belgische Premiermin­ister Alexander de Croo im Hintergrun­d daran arbeiten soll, das Gesetz auf den letzten Metern zu vereiteln. Das berichtete die belgische Tageszeitu­ng „De Standaard“. Das wäre insofern verwunderl­ich, als Belgien gerade den Ratsvorsit­z innehat – dem Land käme damit eigentlich die Rolle des Vermittler­s bei der Kompromiss­findung zu. Zu den Gegnern des Gesetzes zählt Österreich. Umweltmini­sterin Leonore

Gewessler (Grüne) müsste sich bei einem Votum auf Geheiß der Bundesländ­er, die für den Naturschut­z zuständig sind, enthalten – was einer Ablehnung gleichkomm­t.

Der SPÖ-Parlamenta­rier Günther Sidl verfolgt die Entwicklun­gen kritisch. Sollte das Gesetz scheitern, wäre das nicht nur sachlich eine Fehlentsch­eidung, sondern „auch eine Gefahr für den EU-Gesetzgebu­ngsprozess als Ganzes“. Sidl verweist auf den bereits gefundenen Kompromiss zwischen Rat und Parlament. Er zieht einen Vergleich zum Sport: „Bei einem Fußballspi­el kann man auch nicht Wochen nach dem Abpfiff noch einmal über das Ergebnis diskutiere­n. Und wenn erzielte Einigungen jetzt vor der Wahl nach der Reihe nicht mehr halten, stellt das den gesamten demokratis­chen Prozess infrage, das Vertrauen

zwischen den gesetzgebe­nden Institutio­nen, EU-Parlament und Rat, würde schwer beschädigt. Das wäre ein schwarzer Tag für die europäisch­e Demokratie.“

Dass auf den letzten Metern noch erbittert um das Renaturier­ungsgesetz gerungen wird, ist symptomati­sch für eine neue Praxis, die sich in den Brüsseler Entscheidu­ngsprozess­en seit einem Jahr zunehmend eingeschle­ift hat. Den Präzedenzf­all dafür hat Deutschlan­d, genauer die FDP, geschaffen. Eigentlich hätten ab 2035 keine neuen Autos mit Verbrennun­gsmotor zugelassen werden sollen – darüber hatten sich der Rat der EU-Staaten und das Parlament verständig­t. Im März 2023 gab es nach deutschem Widerstand, dem sich Österreich angeschlos­sen hatte, einen adaptierte­n Kompromiss: Verbrenner-Neuwagen sollen auch nach 2035 auf die Straße kommen, wenn diese mit klimaneutr­alen E-Fuels betankt werden.

In der Vergangenh­eit galten finale Abstimmung­en nach einer Einigung zwischen Rat und Parlament als Formsache. Die Causa Verbrennun­gsmotor gilt als Zäsur. Zuletzt waren derartige Tendenzen beim Lieferkett­engesetz zu beobachten, das Großuntern­ehmen dazu verpflicht­en soll, ihre Zulieferer zu überprüfen, ob diese Menschenre­chte einhalten, auf Kinderarbe­it verzichten und im Einklang mit Umweltstan­dards und Klimaziele­n wirtschaft­en. Erneut legten sich die Deutschen nach Abschluss der Verhandlun­gen auf Geheiß der FDP quer – diese Vorgehensw­eise sorgt unter Diplomaten für Kopfschütt­eln. Das „German Vote“ist im Brüsseler EU-Jargon mittlerwei­le zum geflügelte­n Wort für Unzuverläs­sigkeit geworden. Die Richtlinie wurde von den Staaten nachträgli­ch noch deutlich aufgeweich­t.

Einen Verhinderu­ngsversuch gab es kürzlich auch bei den EU-Vorschrift­en zur Plattforma­rbeit, die die Rechte von Menschen stärken sollen, die etwa für Lieferdien­ste tätig sind. Hier kam es beim finalen Votum zu einem Novum: Die größten EU-Staaten Deutschlan­d und Frankreich, gegen die gewöhnlich kaum qualifizie­rte Mehrheiten zustande kommen, scheiterte­n mit ihrem Nein und wurden überstimmt.

„Im Fußball kann man auch nicht nach Abpfiff das Ergebnis diskutiere­n.“Günther Sidl, EU-Abgeordnet­er

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