Eitelkeit wurde unterschätzt
Ehrlich gesagt – für mich war die Lektüre des SN-Interviews mit Wladimir Kaminer (14. 3.) ausgesprochen wohltuend. Natürlich spielen in der Politik handfeste Interessen die Hauptrolle, aber auch die Psychologie und Diplomatie sollten nicht außer Acht gelassen werden. Und gerade Putin war mit seiner Eitelkeit, seinen menschlichen Schwächen (ja menschlich!) diesbezüglich sehr empfänglich. Ihn in politische Prozesse einzubinden wäre also durchaus möglich gewesen. Stattdessen wurde Russland wegen seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten plakativ der Supermachtund sogar Großmachtstatus abgesprochen und mit Verweis auf Menschenrechte die Zusammenarbeit ständig reduziert, Russland isoliert und von Entscheidungen ausgeschlossen und letztlich sanktioniert. Dass dieser Gesichtsverlust für eine militärische Großmacht mit Atomwaffen und mehr als einer Million Soldaten unter Waffen und einen Machthaber mit Putins „frame of mind“auf die Dauer absolut inakzeptabel sein könnte, das verstehen Europas kleingeistige Politiker bis heute nicht. (Anmerkung: Kreisky, W. Brandt, Palme, Schmidt, Kohl, Mitterrand etc. wäre das nicht passiert.)
Europas Weg – wie auch Amerikas –, anderen Systemen immer nur Geld durch Handelsbeziehungen anzubieten, sie ansonsten aber als moralisch zweitklassig zu stigmatisieren, anstatt einen echten Ausgleich zu suchen, wird sicher noch als ein ganz fundamentaler Fehler in die Geschichte eingehen. Isoliert sind nämlich bald Europa und Nordamerika – zusammengenommen nicht einmal eine Milliarde Menschen.
Gottfried Grosser
5280 Braunau