Nackt und bloß
Warum wir unsere Verletzlichkeit hinter einer Fassade verstecken. Und warum Joe Biden auf keinen Fall beim Gehen stürzen darf.
Ein SN-Gespräch mit dem Medizinethiker Giovanni Maio über Verletzlichkeit und Scham, über Ignorieren und Wegschauen – und wie die Sorge füreinander vor Verletzung und Bloßstellung schützen könnte.
SN: Warum fühlen wir Menschen uns so verletzlich?
Giovanni Maio: Wir sind angewiesen auf gute Lebensbedingungen, weil wir leibliche Wesen sind. Verletzlich zu sein bedeutet zunächst einmal, einen Körper zu haben, der verletzt werden kann. Aber das ist nur die erste Stufe. Wir sind zugleich Menschen, die verwiesen sind auf andere, die ohne andere Menschen nicht leben können. Diese Beziehungshaftigkeit macht uns extrem verletzlich, weil wir jeden Tag mit Nichtbeachtung, Ignorierung, fehlender Anerkennung und abschätzigen Bemerkungen konfrontiert sein können.
SN: Wir sind besonders verletzlich, weil wir auf gute zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen sind?
Das ist das Besondere, dass wir jeden Tag auf Zeichen angewiesen sind, die uns vor Augen führen, dass wir jemand sind und nicht etwas. Wir brauchen die Ansprache durch andere, um uns als jemand zu fühlen. Daher ist jeder Mensch ständig der Gefahr einer symbolischen Verletzung ausgesetzt: Durch andere, die einen nicht beachten, durch andere, die keine Antwort geben. Schon Wegschauen kann verletzen, erst recht ein verächtlicher Blick.
SN: Eine Reaktion ist die Scham. Wir wissen, dass jeder Mensch verletzlich ist. Warum schäme ich mich dann, wenn es mich trifft?
Wenn man sich schämt, bekommt das Selbstbild einen Riss. Dazu kommt die Vorstellung, was wäre, wenn mich jetzt jemand sehen würde. Wie stünde ich da? Nackt und bloßgestellt! Wenn man sich schämt, kommt man sich wie ein Schatten seiner selbst vor. Ich bin nicht mehr ich selbst, sondern jemand, der ich nicht sein will.
SN: Bis vor 20 Jahren hat man etwa eine Krebserkrankung schamhaft zu verstecken versucht. Hat sich da etwas gebessert?
Wir gehen heute zwar etwas offener mit Krankheit um. Gleichwohl gibt es die soziale Erwartung, dass man auch in der Krankheit souverän zu bleiben hat. Man kann über die eigene Krankheit sprechen, aber dann wird sofort gefragt: Und, wie hast du das gemanagt?! Der Mensch, der mit dem Kranksein nicht fertig wird, gilt als selbst schuld. Die Schuldfrage stellt sich heute neu, weil tatsächlich vom einzelnen Menschen erwartet wird, dass er bis zuletzt Unternehmer seiner selbst ist. Er ist seines Glückes Schmied. Wenn er unglücklich wird, hat er etwas falsch gemacht. Wir haben eine Intoleranz gegenüber dem Scheitern, dem Versagen. Unsere Gesellschaft möchte nur Sieger sehen. Selbst wenn man stolpert, wird erwartet, dass man aus dem Stolpern als Sieger hervorgeht.
SN: Woher kommt dieser extreme Anspruch, wenn doch jeder Mensch die Erfahrung hat, dass Scheitern unvermeidlich ist. Warum belügen wir uns selbst und die anderen?
Wir leben in einer Gesellschaft, die uns bestimmte Ideale derart suggeriert, dass wir meinen, Verletzlichkeit und Angewiesenheit seien etwas Schlechtes, was wir unbedingt vermeiden und von uns abspalten müssen. Angewiesenheit gilt so sehr als das unbedingt Vermeidbare, dass wir uns selbst als defizitär sehen, wenn wir auf andere angewiesen sind. Wir leben einen Mythos des Unangewiesenseins und der Unverwundbarkeit. Wir glauben, wir hätten alles im Griff. Dadurch wird das selbstverständliche Angewiesensein auf andere als Ausnahmefall gesehen, obwohl es das Normalste der Welt ist.
SN: Was kann helfen? Die Flucht nach vorn oder sich einpanzern?
Momentan versuchen die Menschen sich einzupanzern. Alle haben Angst, dass sie rausfallen, wenn sie dem kollektiven Idealbild nicht entsprechen. Die Verletzlichkeit wird verdrängt, um nicht als wertlos, als uninteressant, als ein Niemand zu gelten. Denken Sie an Joe Biden. Er kann es sich nicht leisten, auch nur ein Mal zu stolpern. Da würden sich sofort alle auf ihn stürzen. Er darf alt sein, aber nur wenn er als alter Mensch rüstig erscheint.
Würde er als gebrechlich erscheinen, wäre er sofort aus der Gruppe der Leistungsfähigen und derer, die uns etwas zu sagen haben, herauskatapultiert.
So geht es allen Menschen. Sie haben das Gefühl, dass sie als defizitär angesehen werden und nichts mehr zu sagen haben, wenn sie dem Idealbild nicht entsprechen. Daher versuche ich in meinem Buch „Ethik der Verletzlichkeit“aufzuzeigen, dass wir diese Grundverletzlichkeit des Menschen annehmen müssen, damit Menschen ihre Verletzlichkeit nicht zu verstecken brauchen.
SN: Offenbar erheben wir den Anspruch der Unverletzlichkeit an Menschen, die vorn stehen, besonders scharf.
Biden ist ein Symbol dafür, dass jeder und jede in unserer Gesellschaft sich selbst darstellen muss. Wer sich nicht darstellen kann, wird nicht wahrgenommen. In einer Gesellschaft der sozialen Medien trägt man sich ständig zu Markte wie eine Ware. Man muss sich inszenieren, um jemand zu sein. Dabei gelten kollektive
Werte, die die Leistungsfähigkeit und Unangewiesenheit an oberste Stelle setzen. Nicht nur ein Präsident, auch zum Beispiel ein Lehrer würde sofort als inkompetent gelten, wenn er sich so darstellt, dass er auf andere angewiesen ist.
SN: Sie fordern eine Kultur der Sorge. Was würde das heißen?
Wir müssen eine Kultur der Sorge entwickeln, durch die das Verletzlichsein nicht nur als Schreckgespenst gesehen wird, sondern auch als Ressource und Chance. Nur durch unsere Verletzlichkeit entwickeln sich unsere Fähigkeiten zum Mitgefühl, und wir müssen nicht im Panzer leben. Verletzlichkeit macht echte Mitmenschlichkeit möglich. Ohne unsere eigene Verletzlichkeit könnten wir andere Menschen nicht verstehen.
Die Verletzlichkeit ist nicht nur eine Beschreibung. Sie ist auch ein Appell. Wenn jemand verletzlich ist, heißt das, wir müssen uns dafür einsetzen, dass diese drohende Verletzung nicht eintritt. Das ist das Spannende an der Verletzlichkeit. In dem Moment, wo wir verletzlich sind, können wir verletzt werden oder es kann auch gut ausgehen. Die Sorge ist entscheidend dafür, dass es einen guten Ausgang gibt. Egal ob es um ein körperliches oder ein psychisches Leiden geht: Die Sorge bedeutet, ich setze mich für dich ein, um dir zunächst einmal deine Selbstachtung zurückzugeben, um dir deinen eigenen Wert widerzuspiegeln. Die Sorge hat eine bestätigende, bekräftigende, ermutigende Funktion: Ich kümmere mich um dich, es ist mir wichtig, dass du bist. Daher ist die Sorge die Antwort auf die Verletzlichkeit.
SN: Die Sorge muss ich auch annehmen, ich muss mir eingestehen, dass ich verletzlich bin und andere brauche.
Schon wegschauen kann verletzen, erst recht ein verächtlicher Blick.
Durch den Mythos der Unverwundbarkeit und der Unangewiesenheit meinen wir alle, dass wir die anderen nicht brauchen. Und wenn man doch in die Situation gerät, offenkundig die Hilfe anderer zu brauchen, dann ziehen viele Menschen gar die Selbsttötung in Betracht, weil sie anderen nicht zur Last fallen wollen. Dass viele Menschen so denken, ist schon ein Indiz für eine Gesellschaft, in der die Sorge für den anderen keine absolute Selbstverständlichkeit mehr darstellt. Wir leben in einer geradezu entsolidarisierten Gesellschaft, in der zuweilen suggeriert wird, dass die Schwächsten nur eine Last seien und dass die Sorgekultur viel zu aufwendig sei und uns alle überfordere.
Daher ist es wichtig, das Signal zu senden, es ist kein Defizit, Hilfe zu brauchen, sondern es gehört selbstverständlich zum Menschsein dazu, weil wir alle verletzliche Wesen sind. Wir brauchen eine Sorgekultur, die nicht der Ausnahmefall ist, sondern die überall gelebt wird, in professioneller Form wie in privater. Die Sorge hat etwas Erfüllendes, für die, die sie leisten, und für die, die sie empfangen. Die Sorge drückt aus, dass es mir ein inneres Anliegen ist, mich um den anderen zu kümmern, weil ich dabei vom anderen auch viel zurückbekomme. Menschen, die gebrechlich sind, haben uns viel zu sagen, sie können uns so viel geben. Wir müssen uns nur auf sie einlassen und versuchen, ihre Sprache zu verstehen.
Giovanni Maio Medizinethiker, Universität Freiburg