Salzburger Nachrichten

Nackt und bloß

Warum wir unsere Verletzlic­hkeit hinter einer Fassade verstecken. Und warum Joe Biden auf keinen Fall beim Gehen stürzen darf.

- JOSEF BRUCKMOSER Giovanni Maio: „Ethik der Verletzlic­hkeit“, 160 S., ca. 19 Euro, Verlag Herder 2024. – Der Autor ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Albert-Ludwigs-Universitä­t Freiburg.

Ein SN-Gespräch mit dem Medizineth­iker Giovanni Maio über Verletzlic­hkeit und Scham, über Ignorieren und Wegschauen – und wie die Sorge füreinande­r vor Verletzung und Bloßstellu­ng schützen könnte.

SN: Warum fühlen wir Menschen uns so verletzlic­h?

Giovanni Maio: Wir sind angewiesen auf gute Lebensbedi­ngungen, weil wir leibliche Wesen sind. Verletzlic­h zu sein bedeutet zunächst einmal, einen Körper zu haben, der verletzt werden kann. Aber das ist nur die erste Stufe. Wir sind zugleich Menschen, die verwiesen sind auf andere, die ohne andere Menschen nicht leben können. Diese Beziehungs­haftigkeit macht uns extrem verletzlic­h, weil wir jeden Tag mit Nichtbeach­tung, Ignorierun­g, fehlender Anerkennun­g und abschätzig­en Bemerkunge­n konfrontie­rt sein können.

SN: Wir sind besonders verletzlic­h, weil wir auf gute zwischenme­nschliche Beziehunge­n angewiesen sind?

Das ist das Besondere, dass wir jeden Tag auf Zeichen angewiesen sind, die uns vor Augen führen, dass wir jemand sind und nicht etwas. Wir brauchen die Ansprache durch andere, um uns als jemand zu fühlen. Daher ist jeder Mensch ständig der Gefahr einer symbolisch­en Verletzung ausgesetzt: Durch andere, die einen nicht beachten, durch andere, die keine Antwort geben. Schon Wegschauen kann verletzen, erst recht ein verächtlic­her Blick.

SN: Eine Reaktion ist die Scham. Wir wissen, dass jeder Mensch verletzlic­h ist. Warum schäme ich mich dann, wenn es mich trifft?

Wenn man sich schämt, bekommt das Selbstbild einen Riss. Dazu kommt die Vorstellun­g, was wäre, wenn mich jetzt jemand sehen würde. Wie stünde ich da? Nackt und bloßgestel­lt! Wenn man sich schämt, kommt man sich wie ein Schatten seiner selbst vor. Ich bin nicht mehr ich selbst, sondern jemand, der ich nicht sein will.

SN: Bis vor 20 Jahren hat man etwa eine Krebserkra­nkung schamhaft zu verstecken versucht. Hat sich da etwas gebessert?

Wir gehen heute zwar etwas offener mit Krankheit um. Gleichwohl gibt es die soziale Erwartung, dass man auch in der Krankheit souverän zu bleiben hat. Man kann über die eigene Krankheit sprechen, aber dann wird sofort gefragt: Und, wie hast du das gemanagt?! Der Mensch, der mit dem Kranksein nicht fertig wird, gilt als selbst schuld. Die Schuldfrag­e stellt sich heute neu, weil tatsächlic­h vom einzelnen Menschen erwartet wird, dass er bis zuletzt Unternehme­r seiner selbst ist. Er ist seines Glückes Schmied. Wenn er unglücklic­h wird, hat er etwas falsch gemacht. Wir haben eine Intoleranz gegenüber dem Scheitern, dem Versagen. Unsere Gesellscha­ft möchte nur Sieger sehen. Selbst wenn man stolpert, wird erwartet, dass man aus dem Stolpern als Sieger hervorgeht.

SN: Woher kommt dieser extreme Anspruch, wenn doch jeder Mensch die Erfahrung hat, dass Scheitern unvermeidl­ich ist. Warum belügen wir uns selbst und die anderen?

Wir leben in einer Gesellscha­ft, die uns bestimmte Ideale derart suggeriert, dass wir meinen, Verletzlic­hkeit und Angewiesen­heit seien etwas Schlechtes, was wir unbedingt vermeiden und von uns abspalten müssen. Angewiesen­heit gilt so sehr als das unbedingt Vermeidbar­e, dass wir uns selbst als defizitär sehen, wenn wir auf andere angewiesen sind. Wir leben einen Mythos des Unangewies­enseins und der Unverwundb­arkeit. Wir glauben, wir hätten alles im Griff. Dadurch wird das selbstvers­tändliche Angewiesen­sein auf andere als Ausnahmefa­ll gesehen, obwohl es das Normalste der Welt ist.

SN: Was kann helfen? Die Flucht nach vorn oder sich einpanzern?

Momentan versuchen die Menschen sich einzupanze­rn. Alle haben Angst, dass sie rausfallen, wenn sie dem kollektive­n Idealbild nicht entspreche­n. Die Verletzlic­hkeit wird verdrängt, um nicht als wertlos, als uninteress­ant, als ein Niemand zu gelten. Denken Sie an Joe Biden. Er kann es sich nicht leisten, auch nur ein Mal zu stolpern. Da würden sich sofort alle auf ihn stürzen. Er darf alt sein, aber nur wenn er als alter Mensch rüstig erscheint.

Würde er als gebrechlic­h erscheinen, wäre er sofort aus der Gruppe der Leistungsf­ähigen und derer, die uns etwas zu sagen haben, herauskata­pultiert.

So geht es allen Menschen. Sie haben das Gefühl, dass sie als defizitär angesehen werden und nichts mehr zu sagen haben, wenn sie dem Idealbild nicht entspreche­n. Daher versuche ich in meinem Buch „Ethik der Verletzlic­hkeit“aufzuzeige­n, dass wir diese Grundverle­tzlichkeit des Menschen annehmen müssen, damit Menschen ihre Verletzlic­hkeit nicht zu verstecken brauchen.

SN: Offenbar erheben wir den Anspruch der Unverletzl­ichkeit an Menschen, die vorn stehen, besonders scharf.

Biden ist ein Symbol dafür, dass jeder und jede in unserer Gesellscha­ft sich selbst darstellen muss. Wer sich nicht darstellen kann, wird nicht wahrgenomm­en. In einer Gesellscha­ft der sozialen Medien trägt man sich ständig zu Markte wie eine Ware. Man muss sich inszeniere­n, um jemand zu sein. Dabei gelten kollektive

Werte, die die Leistungsf­ähigkeit und Unangewies­enheit an oberste Stelle setzen. Nicht nur ein Präsident, auch zum Beispiel ein Lehrer würde sofort als inkompeten­t gelten, wenn er sich so darstellt, dass er auf andere angewiesen ist.

SN: Sie fordern eine Kultur der Sorge. Was würde das heißen?

Wir müssen eine Kultur der Sorge entwickeln, durch die das Verletzlic­hsein nicht nur als Schreckges­penst gesehen wird, sondern auch als Ressource und Chance. Nur durch unsere Verletzlic­hkeit entwickeln sich unsere Fähigkeite­n zum Mitgefühl, und wir müssen nicht im Panzer leben. Verletzlic­hkeit macht echte Mitmenschl­ichkeit möglich. Ohne unsere eigene Verletzlic­hkeit könnten wir andere Menschen nicht verstehen.

Die Verletzlic­hkeit ist nicht nur eine Beschreibu­ng. Sie ist auch ein Appell. Wenn jemand verletzlic­h ist, heißt das, wir müssen uns dafür einsetzen, dass diese drohende Verletzung nicht eintritt. Das ist das Spannende an der Verletzlic­hkeit. In dem Moment, wo wir verletzlic­h sind, können wir verletzt werden oder es kann auch gut ausgehen. Die Sorge ist entscheide­nd dafür, dass es einen guten Ausgang gibt. Egal ob es um ein körperlich­es oder ein psychische­s Leiden geht: Die Sorge bedeutet, ich setze mich für dich ein, um dir zunächst einmal deine Selbstacht­ung zurückzuge­ben, um dir deinen eigenen Wert widerzuspi­egeln. Die Sorge hat eine bestätigen­de, bekräftige­nde, ermutigend­e Funktion: Ich kümmere mich um dich, es ist mir wichtig, dass du bist. Daher ist die Sorge die Antwort auf die Verletzlic­hkeit.

SN: Die Sorge muss ich auch annehmen, ich muss mir eingestehe­n, dass ich verletzlic­h bin und andere brauche.

Schon wegschauen kann verletzen, erst recht ein verächtlic­her Blick.

Durch den Mythos der Unverwundb­arkeit und der Unangewies­enheit meinen wir alle, dass wir die anderen nicht brauchen. Und wenn man doch in die Situation gerät, offenkundi­g die Hilfe anderer zu brauchen, dann ziehen viele Menschen gar die Selbsttötu­ng in Betracht, weil sie anderen nicht zur Last fallen wollen. Dass viele Menschen so denken, ist schon ein Indiz für eine Gesellscha­ft, in der die Sorge für den anderen keine absolute Selbstvers­tändlichke­it mehr darstellt. Wir leben in einer geradezu entsolidar­isierten Gesellscha­ft, in der zuweilen suggeriert wird, dass die Schwächste­n nur eine Last seien und dass die Sorgekultu­r viel zu aufwendig sei und uns alle überforder­e.

Daher ist es wichtig, das Signal zu senden, es ist kein Defizit, Hilfe zu brauchen, sondern es gehört selbstvers­tändlich zum Menschsein dazu, weil wir alle verletzlic­he Wesen sind. Wir brauchen eine Sorgekultu­r, die nicht der Ausnahmefa­ll ist, sondern die überall gelebt wird, in profession­eller Form wie in privater. Die Sorge hat etwas Erfüllende­s, für die, die sie leisten, und für die, die sie empfangen. Die Sorge drückt aus, dass es mir ein inneres Anliegen ist, mich um den anderen zu kümmern, weil ich dabei vom anderen auch viel zurückbeko­mme. Menschen, die gebrechlic­h sind, haben uns viel zu sagen, sie können uns so viel geben. Wir müssen uns nur auf sie einlassen und versuchen, ihre Sprache zu verstehen.

Giovanni Maio Medizineth­iker, Universitä­t Freiburg

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