Salzburger Nachrichten

Huch! Das soll wirklich ich sein?

Bürgermeis­terwahl. Kennen Sie sich selbst? Dann testen Sie mal Ihre eigenen politische­n Ansichten. Sie könnten überrascht sein. Überhaupt: Keiner von uns ist wirklich der, der er selbst zu sein glaubt.

- CHRISTIAN RESCH

Und, wissen Sie es schon? Wen Sie bei der Bürgermeis­ter-Stichwahl am Sonntag wählen? Also nur, falls Sie ein Salzburger „Stodinger“sind: Vielleicht haben Sie ja schon das „digitale SN-Wahllokal“auf SN.at ausprobier­t. Schon im ersten Wahlgang konnte man da zu etlichen politische­n Fragen seine Meinung ankreuzen und die Bedeutung auch gewichten – und am Ende sagte einem die App, wen man eigentlich wählen müsste. Für die Stichwahl geht das natürlich wieder. Und, jede Wette: Beim zweiten Wahlgang wird es Tausenden Wahlberech­tigten wieder gleich gehen. Man sucht sich brav seine Antworten aus, ist möglichst ehrlich und bedacht. Und dann: Kommt da doch glatt eine politische Partei heraus, die man nie, also gar nie, jemals würde wählen wollen. Oder zumindest nicht die, die man eigentlich voller Überzeugun­g an der „echten“Urne angekreuzt hätte.

Es ist verlässlic­h überliefer­t, dass gar nicht wenige Nutzer dann Folgendes machen: so lange herumspiel­en und mit anderen Antworten experiment­ieren, bis dann, gefälligst, die richtige Partei herauskomm­t. Weil: Was man wählt, das muss ja schon zum eigenen Image passen. Allein sind wir Salzburger damit übrigens nicht – man kennt das Phänomen etwa auch von deutschen Bundestags­wahlen. Da gruselte es zuletzt so manchen Menschen der selbstempf­undenen politische­n Mitte. Nämlich, wenn laut

App rechte und ganz rechte Parteien ganz oben in der „Das-müssten-Sie-wählen-Liste“auftauchen.

Da tut sich doch ein Abgrund auf, der das trennt, was wir wirklich denken, und das, was wir glauben, dass wir denken müssten. Psychologi­sch vertrackt, das Ganze. Forscher haben dafür ein Wort erfunden: Selbstbild-Fremdbild-Inkongruen­z. Sie kommt unter anderem zustande, weil jeder Mensch „blinde Flecken“hat, also Anteile seiner Persönlich­keit, die er nicht anerkennen will und die verdrängt werden. Carl Gustav Jung, der berühmte analytisch­e Psychologe, sprach vom „Schatten“in uns. Der deutsche Wirtschaft­spsycholog­e Reiner Neumann formuliert es alltagsnäh­er: „Das ist, wie wenn Sie einen Fussel hinten am Sakko haben. Selbst sehen Sie den nicht – da muss schon ein lieber Mensch kommen und Sie darauf aufmerksam machen.“Wir kennen uns eben selbst am allerwenig­sten, denn: „Wir scheitern in der Selbstanal­yse daran, dass wir zugleich das Buch und dessen Leser sind“, wie der Hamburger Sozialpsyc­hologe Hans-Peter Erb es formuliert.

Reiner Neumann weiß auch aus Erfahrung, dass sich nur eine Minderheit unterschät­zt – Selbstüber­schätzung ist eher die Regel. „80 Prozent der Lenker glauben, dass sie überdurchs­chnittlich gute Autofahrer sind. Das geht sich mathematis­ch nicht ganz aus“, sagt er. Und so schätzen sich vielleicht manche, die sich für liberale, weltoffene Bürger halten, eben auch als übertriebe­n liberal und weltoffen ein – und dann kommt das böse Erwachen mit der Wahllokal-App.

Freilich muss man schon sagen: Gewählt wird ja nur teils eine Partei, teils aber auch der Spitzenkan­didat. Und aus dieser Mischkulan­z ergeben sich dann die außergewöh­nlichsten Ergebnisse. Das muss ja auch nichts Schlechtes sein: „Eigentlich ist das super. Genau das ist ja auch der Sinn der Sache“, sagt etwa Julius Oblong, dessen Softwaresc­hmiede Voto das SN-Wahllokal programmie­rt hat. Ob also wirklich viele Leute ihre alte Parteipräg­ung hinter sich lassen und das wählen, was die App vorschlägt? Oblong macht auf etwas aufmerksam: Der Mensch neigt dazu, seine Meinung bestätigt sehen zu wollen. Und das gilt eben auch als das Hauptmotiv vieler, die solche Wahltest-Apps benutzen. Sein eigenes Wahlverhal­ten – oder das Selbstbild – ändern zu müssen, dagegen regt sich innerer Widerstand. Mitja Back, Professor für Persönlich­keitspsych­ologie an der Uni Münster, spricht von unserer Neigung, „ein konsistent­es Selbstbild zu behalten“. Dabei hilft dann auch eine selektive Wahrnehmun­g: Was an meinen Gefühlen und Affekten nicht zu meinem Selbstbild passt, das leugne ich vielleicht lieber.

Reiner Neumann: „Dann passiert es, dass viele Leute sagen, die Wahl-App ist Mist, da hat jemand einen Programmie­rfehler gemacht.“Dabei liegt der Programmie­rfehler doch eher hinter der eigenen Stirn. Wobei dieses Beharren auf einem teils falschen Selbstbild auch wieder normal ist: Niemand will sich ins soziale Out katapultie­ren. Etwa, indem man den eigenen intellektu­ellen Bobo-Freunden mitteilt, dass man jetzt ein FPÖler ist. Oder umgekehrt, wenn man im Zigarrencl­ub der Industriel­lenvereini­gung zum Besten gibt, dass man jetzt den Dankl von der KPÖ wählt.

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BILDER:SN/MIDJOURNEY-RESCH

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