Huch! Das soll wirklich ich sein?
Bürgermeisterwahl. Kennen Sie sich selbst? Dann testen Sie mal Ihre eigenen politischen Ansichten. Sie könnten überrascht sein. Überhaupt: Keiner von uns ist wirklich der, der er selbst zu sein glaubt.
Und, wissen Sie es schon? Wen Sie bei der Bürgermeister-Stichwahl am Sonntag wählen? Also nur, falls Sie ein Salzburger „Stodinger“sind: Vielleicht haben Sie ja schon das „digitale SN-Wahllokal“auf SN.at ausprobiert. Schon im ersten Wahlgang konnte man da zu etlichen politischen Fragen seine Meinung ankreuzen und die Bedeutung auch gewichten – und am Ende sagte einem die App, wen man eigentlich wählen müsste. Für die Stichwahl geht das natürlich wieder. Und, jede Wette: Beim zweiten Wahlgang wird es Tausenden Wahlberechtigten wieder gleich gehen. Man sucht sich brav seine Antworten aus, ist möglichst ehrlich und bedacht. Und dann: Kommt da doch glatt eine politische Partei heraus, die man nie, also gar nie, jemals würde wählen wollen. Oder zumindest nicht die, die man eigentlich voller Überzeugung an der „echten“Urne angekreuzt hätte.
Es ist verlässlich überliefert, dass gar nicht wenige Nutzer dann Folgendes machen: so lange herumspielen und mit anderen Antworten experimentieren, bis dann, gefälligst, die richtige Partei herauskommt. Weil: Was man wählt, das muss ja schon zum eigenen Image passen. Allein sind wir Salzburger damit übrigens nicht – man kennt das Phänomen etwa auch von deutschen Bundestagswahlen. Da gruselte es zuletzt so manchen Menschen der selbstempfundenen politischen Mitte. Nämlich, wenn laut
App rechte und ganz rechte Parteien ganz oben in der „Das-müssten-Sie-wählen-Liste“auftauchen.
Da tut sich doch ein Abgrund auf, der das trennt, was wir wirklich denken, und das, was wir glauben, dass wir denken müssten. Psychologisch vertrackt, das Ganze. Forscher haben dafür ein Wort erfunden: Selbstbild-Fremdbild-Inkongruenz. Sie kommt unter anderem zustande, weil jeder Mensch „blinde Flecken“hat, also Anteile seiner Persönlichkeit, die er nicht anerkennen will und die verdrängt werden. Carl Gustav Jung, der berühmte analytische Psychologe, sprach vom „Schatten“in uns. Der deutsche Wirtschaftspsychologe Reiner Neumann formuliert es alltagsnäher: „Das ist, wie wenn Sie einen Fussel hinten am Sakko haben. Selbst sehen Sie den nicht – da muss schon ein lieber Mensch kommen und Sie darauf aufmerksam machen.“Wir kennen uns eben selbst am allerwenigsten, denn: „Wir scheitern in der Selbstanalyse daran, dass wir zugleich das Buch und dessen Leser sind“, wie der Hamburger Sozialpsychologe Hans-Peter Erb es formuliert.
Reiner Neumann weiß auch aus Erfahrung, dass sich nur eine Minderheit unterschätzt – Selbstüberschätzung ist eher die Regel. „80 Prozent der Lenker glauben, dass sie überdurchschnittlich gute Autofahrer sind. Das geht sich mathematisch nicht ganz aus“, sagt er. Und so schätzen sich vielleicht manche, die sich für liberale, weltoffene Bürger halten, eben auch als übertrieben liberal und weltoffen ein – und dann kommt das böse Erwachen mit der Wahllokal-App.
Freilich muss man schon sagen: Gewählt wird ja nur teils eine Partei, teils aber auch der Spitzenkandidat. Und aus dieser Mischkulanz ergeben sich dann die außergewöhnlichsten Ergebnisse. Das muss ja auch nichts Schlechtes sein: „Eigentlich ist das super. Genau das ist ja auch der Sinn der Sache“, sagt etwa Julius Oblong, dessen Softwareschmiede Voto das SN-Wahllokal programmiert hat. Ob also wirklich viele Leute ihre alte Parteiprägung hinter sich lassen und das wählen, was die App vorschlägt? Oblong macht auf etwas aufmerksam: Der Mensch neigt dazu, seine Meinung bestätigt sehen zu wollen. Und das gilt eben auch als das Hauptmotiv vieler, die solche Wahltest-Apps benutzen. Sein eigenes Wahlverhalten – oder das Selbstbild – ändern zu müssen, dagegen regt sich innerer Widerstand. Mitja Back, Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Uni Münster, spricht von unserer Neigung, „ein konsistentes Selbstbild zu behalten“. Dabei hilft dann auch eine selektive Wahrnehmung: Was an meinen Gefühlen und Affekten nicht zu meinem Selbstbild passt, das leugne ich vielleicht lieber.
Reiner Neumann: „Dann passiert es, dass viele Leute sagen, die Wahl-App ist Mist, da hat jemand einen Programmierfehler gemacht.“Dabei liegt der Programmierfehler doch eher hinter der eigenen Stirn. Wobei dieses Beharren auf einem teils falschen Selbstbild auch wieder normal ist: Niemand will sich ins soziale Out katapultieren. Etwa, indem man den eigenen intellektuellen Bobo-Freunden mitteilt, dass man jetzt ein FPÖler ist. Oder umgekehrt, wenn man im Zigarrenclub der Industriellenvereinigung zum Besten gibt, dass man jetzt den Dankl von der KPÖ wählt.