Angst vor „Tag null“
Mexiko-Stadt geht das Wasser aus. Ende Juni könnte die Stadt auf dem Trockenen sitzen. Schon jetzt tröpfelt es mancherorts nur mehr aus den Hähnen.
ür Reyna Díaz und ihre Familie ist der morgendliche Gang in Küche und Bad wie eine Lotterie. Wenn die 70Jährige oder ein Mitglied ihrer vierköpfigen Familie die Wasserhähne aufdreht, passiert immer öfter: nichts. Oder es zischt, tropft ein bisschen und mit Glück kommt eine rostige oder milchige Brühe aus dem Hahn. Fließendes, klares Wasser? „Immer seltener“, sagt sie. Díaz wohnt weit draußen im Südwesten von Mexiko-Stadt, umringt von Stadtautobahnen und Businesstempeln. Das Wasser hier in der Peripherie der größten Stadt Lateinamerikas mit ihren rund 22 Millionen Einwohnern war schon immer knapp. „Aber so wie jetzt war es noch nie. Wir sind froh, wenn überhaupt noch Wasser aus dem Hahn kommt.“
Ungewöhnlich hohe Temperaturen zu Jahresbeginn in der Stadt, der Klimawandel und die Erschöpfung der Grundwasserquellen gefährden die Versorgung der Bevölkerung mit dem blauen Gold dieses Jahr mehr denn je. Schon im März, Monate vor Beginn der Regenzeit, muss die Wasserbehörde immer öfter die Hähne in bestimmten Stadtteilen stundenweise zudrehen. In mehr als 200 Stadtteilen und Bezirken des Großraums wird die Wasserversorgung immer wieder unterbrochen.
Auch Familie Díaz ist schon auf „Pipas“angewiesen, die kommunalen Wassertankwagen, die man in diesem heißen mexikanischen Frühling immer öfter in den Randgebieten der Stadt umherfahren sieht. Sie füllen dann mit dicken Feuerwehrschläuchen Plastikfässer, Kübel und Behälter jeder Art mit Wasser. Die Stadt schickt die Tankwagen mit der Aufschrift „agua potable“gratis. Aber da die Behörden mit der Nachfrage nicht nachkommen, müssen immer mehr Menschen von privaten Anbietern kaufen. Kostenpunkt hier: Knapp 70 Euro für 10.000 Liter. Für die Mehrheit der armen Familien ist das eine Investition, die sie sich kaum leisten können. Zumal: je trockener, desto höher die Preise.
Im Südwesten von Mexiko-Stadt fokussieren sich wie unter einem Brennglas die Wasserprobleme: Zu viele Menschen, lecke Leitungen, kaputte Pumpen, schlechte Qualität des Wassers und ein Staat, der kaum nachhaltige Lösungen für ein drängendes Versorgungsproblem hat. Die Proteste nehmen zu und die Unzufriedenheit überschattet bereits die Präsidentschaftswahl am 2. Juni, an dem auch ein neuer Bürgermeister für Mexiko-Stadt bestimmt wird.
Fast zwei Drittel des Wassers, das im Großraum Mexiko verbraucht wird, ist Grundwasser. Die Metropole liegt fernab jeden Gewässers auf einer Hochebene über 2200 Metern.
Mehr als 2000 Pumpen saugen daher jeden Tag Millionen Liter immer tiefer unter der Betonwüste hervor. Das Ergebnis: Teile der Stadt sacken ab, mehrere Zentimeter pro Jahr.
Ein knappes Drittel des Wassers wird durch das Cutzamala-Stausystem eingespeist. Von dort wird es aus anderen Bundesstaaten mehr als hundert Kilometer in die Stadt gepumpt. Aber die Staubecken sind derzeit nur zu 39 Prozent gefüllt. Tendenz fallend. Lediglich zehn Prozent des Wassers werden aus Oberflächenwasser wie Flüssen, Regenwasser und Ähnlichem gedeckt. Verschärfend kommen dieses Jahr die Auswirkungen des Klimawandels und der Wetterphänomene „La Niña“und „El Niño“hinzu, die Hitze und Trockenheit mit sich bringen, sagt die Meteorologin Christian Domínguez. Die seit fast vier Jahren anhaltenden Phänomene hätten in ganz Mexiko ein Niederschlagsdefizit von 41,4 Prozent verursacht, warnt die Expertin der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM).
Und so droht Mexiko-Stadt laut Klimaexperten der „Punkt null“– der Moment, an dem die Stadt mit ihren zehn Millionen Einwohnern und der Ballungsraum mit seinen zwölf Millionen Menschen auf dem Trockenen sitzen könnten. Berechnungen zufolge könnte es schon Ende Juni so weit sein, wenn die Regenzeit dieses Jahr spät oder verringert einsetzt.
„Es ist die Chronik einer angekündigten Tragödie“, sagt Manuel Perló, Stadtforscher an der Universität UNAM. Die Probleme seien seit Jahrzehnten bekannt, aber es seien nie Maßnahmen ergriffen worden, um Abhilfe zu schaffen. Perló nennt nur ein Beispiel: „Jede Sekunde gehen in Mexiko-Stadt 12.000 Liter Wasser durch Lecks oder veraltete Infrastruktur verloren.“Täglich versickert somit ungenutzt die Menge von 865 Fünfzig-MeterSchwimmbecken. Zudem sind die Einwohner von Mexico City extreme Wasserkonsumenten. Pro Einwohner verbrauchen sie mehr als 366 Liter pro Tag, in den besser situierten Wohngebieten sogar bis zu durchschnittlich 567 Liter. Nur in den USA, Australien, Japan und Italien ist der Wasserverbrauch pro Kopf höher.
Durch die Nähe zu den Wahlen nimmt sich die Politik dieses Themas erstmals an. Präsident Andrés Manuel López Obrador veranlasste an den Stadträndern Probebohrungen, um nach neuen Grundwasservorkommen zu suchen. Experten fordern nachhaltige Schritte: Fabiola Sosa-Rodríguez, Wasserexpertin an der Universität von Mexiko-Stadt, sagt, mittelfristig sei eine bessere Abwasseraufbereitung nötig. Nachhaltige Systeme zum Auffangen des Regenwassers könnten zudem die Abhängigkeit von Tankwagen um ein Drittel verringern. Dringend nötig sei zudem die Beseitigung von Lecks in den Leitungssystemen.