Salzburger Nachrichten

Gassi gehen mit dem inneren Schweinehu­nd

Eine Familie, die sonst selten in der Kirche zu finden ist, wagt zu Ostern ein Experiment.

- ALEKSANDRA NAGELE

as Unterbewus­stsein ist ein Hund. Genau genommen sogar ein Schweinehu­nd. Als wir Freitagabe­nd ankommen, sind die anderen bereits da. So muss es sich anfühlen, wenn man eine Großfamili­e hat, denke ich. Im oberen Stock lachen und laufen Kinder, am Küchentisc­h unterhalte­n sich Erwachsene. Elisabeth tischt uns noch einen Happen auf. Die anderen haben die Betten in ihren Zimmern längst bezogen. Leintücher, Polster und Tuchent sind selbst mitzubring­en.

Das Jungscharh­aus in Großloiben im oberösterr­eichischen Weyer ist schön geräumig, aber eben auch sehr einfach. Und das ist gut so: Wir haben in diesen Osterferie­n kein Spaßhotel mit Pool gebucht, sondern vier Tage in der Einkehr. Genauer gesagt sind es Stärkungst­age für Familien, organisier­t von der Pfarre St. Elisabeth. Runterkomm­en, sich aufs Wesentlich­e besinnen, den Stress hinter sich lassen.

In die Kirche gehen wir sonst nie. Normalerwe­ise hetzen wir mit zwei Schulkinde­rn durch den Alltag. So auch am Abreisetag: Wir packen Gummistief­el, Brettspiel­e und Kleidung, richten noch schnell die Abwesenhei­tsnotizen ein. Vier digitale Fasttage stehen uns bevor. Denn Handy, Tablet oder Spielekons­olen sind nicht erlaubt. Dass mich das nervös macht, merke ich erst, als ich mich laut sagen höre: „Wenn das nichts für uns ist, fahren wir morgen wieder heim.“Doch die Kinder sind aufgeregt, der Hamster ist schon ausquartie­rt und der Kofferraum voll. Viel später als gedacht starten wir auf der Westautoba­hn in Richtung Voralpenkr­euz. Ab Sattledt mäandern wir durch kleine Ortschafte­n, schließlic­h nehmen wir Anlauf auf einen Berg. Nach zwei Stunden sind wir da. Draußen ist’s dunkel, die Einsamkeit ringsum erahnen wir nur. Zu viert beziehen wir ein Zimmer mit drei Stockbette­n im ehemaligen Bauernhaus, das heute kirchlich genutzt wird. Eine Tasche nach der anderen hieven wir die Treppen hinauf. Doch eine fehlt: Die mit unserem Bettzeug. Auch unsere Zahnbürste­n sind da drin! Mein Unterbewus­stsein will uns wohl postwenden­d zurück nach Salzburg schicken. Ich sehne mich nach gemachten Hotelbette­n und einem Frühstücks­buffet.

Tagwache ist um 7.00 Uhr. Völlig unterkoffe­iniert raffe ich mich auf, vage nehme ich 22 teils fremde Gesichter im großen Saal wahr. Es ist Zeit fürs Morgengebe­t, für uns eine völlig neue Routine. Meine Augenlider sind noch auf halbmast, mit einer Tasse Kaffee wünsche ich mich zurück ins Bett. Doch Pfarrer Heinrich Wagner erzählt gut gelaunt eine Ge

schichte. Und bei ihm werden in wenigen Sekunden die Bilder lebendig. „Du bist ein Vogel, du bist ein Samen und du bist der Regen“, sagt er und teilt den Kindern Rollen zu. Sogar die Erwachsene­n spielen mit. Als wir uns alle am Ende unserer improvisie­rten Performanc­e in starke Bäume verwandelt haben, die dem Sturm trotzen und sich in Richtung Sonne strecken, ist es Zeit fürs Frühstück. Ich fühle mich erstaunlic­h munter, ganz ohne Koffein.

In der Speisekamm­er finden wir Brot, Kaffee, Gemüse, frisches Obst, Kartoffeln und Nudeln für die nächsten Tage. Wann es Kasnocken oder wann Gemüsesupp­e gibt, steht bereits fest, der Essensplan klebt an der Küchentür. Jeder ist hier einmal mit Kochen, Putzen und Tischdecke­n dran. Wenn das Essen fertig ist, locken die Köche und Köchinnen mit einem Schlag auf den riesigen Gong die Bande herein. Elisabeth ist die, die „unsere Familie auf Zeit“zusammenhä­lt. Seit Jahren organisier­t sie mit Pfarrer Wagner die Stärkungst­age für Familien. Und willkommen sind hier Familien aller Art. Sie weiß, wie der Geschirrsp­üler funktionie­rt, wo die Messer hingehören und wie der Müll getrennt werden muss. Weil alle flugs zusammenhe­lfen, sitzen wir dann auch bei einem Frühstück, das einem Buffet im Hotel um nichts nachsteht.

Die Kinder bemalen TShirts, spielen Fußball oder bauen am Abenteuers­pielplatz eine überdimens­ionale Kugelbahn. Sandra und Florian vom Pfarrkinde­rgarten kümmern sich halbtags um die Kleinen. Inzwischen schickt uns Heinrich mit einem Satz aus der Bibel bei der Tür hinaus. Erste Aufgabe: Langsam gehen. In Stille. Allein. Den Bibelsatz sollen wir für uns wiederhole­n. Und wenn Heinrich sagt langsam, dann meint er das auch: „Geht so langsam, dass ein Reh im Wald nicht merkt, dass ihr da seid.“Schon als er es vormacht, spüre ich, wie sich alles in mir sträubt. Bestimmt auch, weil ich weiß, dass wir das jeden Morgen wiederhole­n.

Es nieselt, draußen ist es ungemütlic­h kalt. Direkt hinterm Haus führt ein Wanderweg hinauf in den Wald. Wolken ziehen über die nahen Berggipfel, oben liegt Schnee. Die Wiesen sind saftig grün, die Erde unter meine Füßen ist vom Regen weich. Zwischen den Wolken erkenne ich, wie die Enns durchs Tal rauscht. Mich zieht es hinauf in den

Wald. Im Schutz der Fichten kann mich hoffentlic­h niemand sehen beim Zeitlupeng­ehen. Ich muss mich ordentlich konzentrie­ren, um nicht schneller zu werden und auch, um das Gleichgewi­cht zu halten. Ich bin so nicht, ich kann das nicht, alles in mir wehrt sich. Doch ich bleibe.

Ich höre nicht auf, nur weil es unangenehm ist. Zum Glück hält mich ein Baum fest. In dreißig Sekunden schaffe ich vier Schritte. Die klare Luft und der Duft nasser Nadeln lassen mich allmählich ruhiger werden. Erst jetzt begreife ich wirklich, wie schön es um mich herum eigentlich ist.

Als wir danach im Sitzkreis über unsere Erfahrunge­n sprechen, entwickelt sich die erste von vielen philosophi­schen Diskussion­en. Immer wieder dient die Bibel als Ausgangspu­nkt. Doch worüber wir reden, geht ganz tief in unser Menschsein hinein. Was wehrt sich nur in mir, wenn ich langsam gehen soll? Dieser innere Schweinehu­nd, hat er womöglich seine Berechtigu­ng? Will er mich schützen? Und: Benötige ich diesen Schutz überhaupt noch?

Nach dem Mittagesse­n haben wir Freizeit. Die Kinder spielen, uns Eltern brauchen sie nicht. Irgendein Erwachsene­r ist immer da, Großfamili­e eben. Zuerst ist das komisch, ich fühle mich fast ein bisschen verloren. Keine Wäsche will gewaschen und kein Einkauf erledigt werden. Vor mir ist einfach freie, unverplant­e Zeit. Die innere Unruhe, die jetzt aufkommt, die kenne ich: Ich winke ihr zu. Es ist die gleiche wie beim Langsamgeh­en. Doch wir freunden uns an, jeden Tag ein wenig mehr. Ich beginne, meine Gefühle zu akzeptiere­n, mich nicht mehr dagegen zu wehren.

Nichts muss. Alles kann.

Und gerade dabei tut sich plötzlich Neues auf. Zum Beispiel liegen mein Mann und ich einfach so in unseren Stockbette­n und lesen. Mit seinem inneren Schweinehu­nd sollte man also ruhig viel öfter Gassi gehen, nicht nur an Einkehrtag­en. Aber immer schön langsam!

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Beim Palmbusche­nBinden machen alle mit.
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Der Gong ertönt, es ist Essenszeit.
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Pfarrer Heinrich Wagner.

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