Putins Taktik, wenn ihm die Kontrolle entgleitet
19 Stunden hat es gedauert, bis der Mann, den vor einer Woche angeblich fast 90 Prozent seines Volks zum Präsidenten kürten, zu diesem Volk sprach – nach dem wohl schlimmsten Terroranschlag der vergangenen 20 Jahre. Es ist ein typisches Verhalten Wladimir Putins, der sich bei Katastrophen erst einmal Zeit verschafft. Das ließ sich beim Untergang des U-Boots „Kursk“2000 genauso beobachten wie bei der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater 2002 oder bei der Geiselnahme in der Schule von Beslan 2004. Das Beileidbekunden ist nicht Putins Sache.
Der 71-Jährige zeigt sich entschlossen, wenn er die Situation kontrollieren kann. Entgleitet ihm die Kontrolle, sucht
Putin erst einmal das Weite. Und das, was Putin nach fast 20 Stunden Schweigen von sich gibt, wirkt so entrückt, dass sein Auftritt noch mehr verunsichert, als dass er den Menschen ihre drängende Frage beantwortet: Warum ist der so aufgeblähte Sicherheitsapparat sofort zur Stelle, wenn ein paar Bürger Blumen für einen toten Oppositionspolitiker ablegen wollen, aber abwesend, wenn bewaffnete Terroristen in einer Menschenmenge um sich schießen?
Während Russlands Behörden in den vergangenen zwei Jahren täglich Andersdenkende wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“jagten, hatten sie den Blick für echte Gefahren aus Islamistenkreisen vernachlässigt. Um nun nicht allzu viele Fragen dazu beantworten zu müssen, verschärft der Kreml das propagandistische Getöse um eine „ukrainische Spur“beim jüngsten Terroranschlag. Es ist die bequemste Reaktion.