Russlands demolierte Wirklichkeit
SN-Reporter Stefan Scholl hat sich bei Trauernden vor der Konzerthalle in Moskau umgehört. Das Regime schlägt Kapital aus dem Anschlag.
Der Mann hat graue Haare, trägt eine hellblaue Sportweste und ist kurz angebunden. Seine Frau hat ihre Handtasche quer über ihre schwarze Daunenjacke gehängt. Sie seien zum Trauern hier, sagt sie abweisend. Ein Arbeitskollege sei hier getötet worden. Wer schuld sei? „Die Ukraine.“Und die Regierung werde schon wissen, was jetzt zu tun sei.
Vor dem Absperrgitter neben uns häuft sich ein Berg frischer Rosenund Nelkensträuße, Teddybären und Stoffhasen wurden auf dem Asphalt niedergelegt. Zwischen den Blumen lehnen gerahmte Holztäfelchen: „Karelien trauert“und „Möge gerechter Zorn aufflammen. Es herrscht Volkskrieg, heiliger Krieg.“Pathos aus dem Zweiten Weltkrieg.
Um den Blumenhügel drängen sich TV-Kameraleute, aber noch mehr Trauernde, immer neue Menschen mit roten Nelken kommen von der U-Bahn. Moskau trauert um die 137 Opfer des Blutbads vom Freitagabend. Im Konzertsaal Crocus City Hall hatte ein Killerkommando aus Sturmgewehren mehr als 6000 Besucher eines Popkonzerts unter Feuer genommen und dann das Gebäude in Brand gesteckt. Ein rotbärtiger Hüne mit Kapuze hält sich etwas abseits, er starrt ins Leere, fängt leise an zu weinen. Hier stehen Dutzende Menschen mit vor Leid starren Gesichtern, hier hat sich viel Schmerz versammelt.
Die Plexiglas-Fassaden der Crocus City Hall sind zum Teil geplatzt, dahinter klaffen rostrote Innereien. Das Dach ist eingestürzt, die Trümmerschlucht darunter ist von hier nicht zu sehen. Aber sie wirkt, als hätte ein Riese in den Konzertsaal hineingetreten. Russlands Wirklichkeit ist jetzt ähnlich demoliert. Es scheint unwirklich, dass angeblich nur vier Terroristen hier so viele Tote und Trümmer hinterlassen haben. So unwirklich wie die Videos der gefassten Täter, wo die Killer kläglich zittern. Regimekritiker bezweifelten zunächst, dass die festgenommenen Tadschiken tatsächlich die Täter sind. Aber das oppositionelle Portal Waschnije Istorii fand zahlreiche Details ihrer Kleidung auf einem Video des Islamischen Staats wieder, das zeigt, wie sie Menschen erschießen, Kehlen durchschneiden und islamistische Parolen schreien. Die Hinweise verdichten sich, dass der IS-Ableger „Islamistischer Staat Provinz Khorasan“hinter dem Attentat steht.
Überlebende erzählten Radio Kommersant FM, die Mörder hätten
Menschen mit Brennflüssigkeit übergossen und bei lebendigem Leibe angezündet. Der Horror schockt. Ebenso die Reaktion: Die Staatspartei Einiges Russland diskutiert die Rückkehr zur Todesstrafe. „Das Regime“, sagt der Exilblogger Pawel Kanygin, „will politisch Kapital aus diesem Verbrechen schlagen.“
Die staatliche Propaganda presst den Fall in ihr aktuelles Narrativ, hinter allem Bösen stünden der Kriegsgegner Ukraine und dessen westliche Verbündete. Zumindest auf den ersten Blick scheint der Terrorakt in den sich aufschaukelnden Abtausch von Raketen- und Drohnenschlägen zu passen, zuletzt gegen Kiew, Charkiw und Lemberg einerseits, Sewastopol und Kuibyschew andererseits. Russische Raffinerien brennen und ukrainische Stromwerke, Polen hat seine Luftwaffe nach dem Auftauchen einer russischen Rakete in seinem Luftraum aktiviert.
An der Gedenkstätte wimmelt es inzwischen von bunten Uniformanoraks, grau die „Volksfront“, blau und weiß die „Junge Garde“. „Ich bin hier, weil das mein Vaterland ist“, sagt eine Mittvierzigerin. Die Schuldigen für das Blutbad säßen in der Ukraine, in den USA und in Großbritannien. „Unsere Politik muss härter werden“, sagt sie.
Wladimir Putin erklärte, die flüchtigen Täter seien auf dem Weg in die Ukraine gefasst worden. „Wo nach ersten Angaben die ukrainische Seite ein Fenster für ihren Grenzübertritt vorbereitet hat.“Vor der Crocus City Hall mag heute niemand diskutieren, wie dieses Fenster ausgesehen haben könnte, an einer Grenze, die längst verminte Kriegsfront ist.
Die Kriegsbegeisterung der russischen Bevölkerung lässt zu wünschen übrig, nach einer Umfrage des Lewada-Zentrums waren im Februar nur noch 39 Prozent der Russinnen und Russen für eine Fortsetzung der „Kriegsspezialoperation“. Die Kreml-PR hat allen Grund, der feindlichen Ukraine auch das Blut und die Tränen vom Freitagabend in die Schuhe zu schieben.
Jenseits der Kipplaster steht ein junges Paar und starrt auf die aufgerissene Fassade der Crocus City Hall. Das Mädchen erzählt, der Dozent einer Bekannten sei hier umgekommen. Wer hinter dem Anschlag steckt? „Sie kennen ja die Version der Behörden“, sagt sie. Nach einer Pause lächelt ihr Begleiter plötzlich und sagt: „Wissen Sie, ich spiele in einer Rockband, wir machen Musik im Stil von Rammstein. Wir sind auch in Deutschland aufgetreten, bei Weimar.“Aber das sei lange vor dem Krieg gewesen. Sie hätten wieder eine Einladung, aber jetzt sei die Reise zu teuer. „Die Organisatoren sagen, wir sollten warten, bis sich alles wieder normalisiert.“