Warum der IS in Moskau zuschlägt
Der „Khorasan“-Ableger des Terrornetzwerks „Islamischer Staat“, der den Anschlag von Moskau verübt haben soll, bekämpft die radikalislamischen Taliban – und alle, die deren Macht zementieren.
Die Taliban waren unter den Ersten, die am Samstagmorgen den verheerenden Terroranschlag bei Moskau verurteilt hatten. Es sei nun eine „koordinierte, klare und entschlossene Haltung“der Länder in der Region gegen den Terror erforderlich, meinte der Sprecher des Taliban-Außenministeriums, Abdul Kahar Balchi, auf der Plattform X. Die Terrororganisation „Islamischer Staat Provinz Khorasan“(ISPK), die sich zu dem Überfall auf die Konzerthalle bekannt hatte, bezeichnete Balchi als eine „von Geheimdiensten gesteuerte Gruppe, die darauf abzielt, den Islam zu diffamieren“.
Wer steckt hinter dem ISPK? Während die Terrororganisation IS ihren Ursprung in Syrien und im Irak hat, kommt der Ableger aus Afghanistan. Khorasan steht für eine historische Region in Zentralasien, die Teile von Afghanistan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan sowie des Irans umfasste. Der ISPK ist eine Unterorganisation des „Islamischen Staates“und nimmt besonders Länder in Zentral- und Mittelasien ins Visier. Er greift sogar die radikalislamischen Taliban an, die im August 2021 die Macht in Afghanistan übernommen haben. Selbst die Zwangsherrschaft der Taliban geht dem ISPK nicht weit genug.
Die Terrorgruppe will die Herrschaft der Taliban beenden und das „wahre Scharia-Recht“in der Hindukusch-Republik einführen. In den Augen der ISPK-Kämpfer sind die Taliban „Abtrünnige und Verräter an der Geschichte Afghanistans“. In den Monaten nach ihrer Machtergreifung 2021 verübten ISPK-Terroristen fast täglich Anschläge auf Kontrollpunkte der Taliban. Experten halten den ISPK für
eine der gefährlichsten Terrorgruppen weltweit.
Im Jahr 2022 griff der ISPK auch die russische Botschaft in Kabul sowie ein bekanntes Hotel in der afghanischen Hauptstadt an, in dem viele chinesische Staatsangehörige lebten. Ziel des ISPK ist es offenbar, einen Keil zwischen die Taliban und Russland, China und den Iran zu treiben – also jene Staaten, die ihre Beziehungen zu den Taliban in den vergangenen Monaten intensiviert haben.
In Russland sieht der ISPK einen seiner Hauptgegner. Die besondere Feindschaft der Terroristen mit Moskau hat mehrere Gründe: die sowjetische Invasion in Afghanistan 1979, die Kriege der russischen Zentralregierung gegen muslimische Rebellen in Tschetschenien zu Beginn der 2000er-Jahre und die russischen Militäreinsätze gegen den „Islamischen Staat“in Syrien seit 2015. Aber auch den Iran strafte der ISPK für die Unterstützung der Taliban. Ohne Lebensmittel und Benzineinfuhren
aus dem Iran könnte das Regime der Taliban nicht überleben. Im Jänner dieses Jahres wurden bei einem Selbstmordanschlag in der iranischen Stadt Kerman fast hundert Menschen getötet. Einen Zusammenhang sehen Experten auch zwischen der Entsendung eines Militärattachés der Taliban nach Moskau Anfang des Monats und dem Terroranschlag auf die Konzerthalle bei Moskau.
„Der ISPK ist bei seinen Angriffen seit Langem von der Logik des
Überbietens motiviert“, analysiert Asfandyar Mir, ein führender Experte am United States Institute of Peace. Die Gruppe versuche, rivalisierende Dschihadisten zu übertreffen, indem sie noch dreistere Anschläge verübe, um die Führung für sich zu behaupten.
Der „Islamische Staat Provinz Khorasan“wurde 2015 von unzufriedenen Taliban-Kämpfern gegründet. Der pakistanische Geheimdienst soll damals „logistische Hilfe“geleistet haben. Die meisten Mitglieder kommen heute aus Tadschikistan. Auf der von den Taliban betriebenen Propagandaplattform „Al-Mersaad“wird Emomali Rahmonov, der seit 1994 amtierende Diktator von Tadschikistan, als der „größte Förderer“genannt. Unter seiner „kommunistischen Herrschaft“seien Bedingungen geschaffen worden, unter denen „salafistisch gesinnte und geistig leere Jugendliche der Propaganda des ISPK zum Opfer gefallen sind“.
Auch die Attentäter von Moskau kamen ausnahmslos aus Tadschikistan, dem ärmsten und korruptesten Land in Zentralasien. Männer dürfen dort nur gestutzte Bärte tragen. Frauen ist das Tragen des Hidschabs in der Öffentlichkeit verboten. Mit den Verboten will das Regime radikalislamischen Tendenzen vorbeugen. Erreicht wurde das Gegenteil. Gut 80 Prozent der geschätzten 3000 aktiven ISPK-Mitglieder sollen inzwischen Tadschiken sein.
Weitere Attentate hat die Terrororganisation bereits angekündigt. Wer wie Russland, China oder der Iran die Herrschaft der „vom rechten Weg des Islam abgekommenen“Taliban stabilisiere, müsse die Konsequenzen tragen.