Gespräche über die Geiseln: Aber wo sind sie?
Wie die Hamas israelische Geiseln als Faustpfand einsetzt und doch nichts über sie preisgibt.
So groß wie die Hoffnung auf einen Durchbruch bei den Verhandlungen in Katar ist in Israel die Angst, dass das die letzte Chance ist, Geiseln lebendig zu befreien. Die letzten Meldungen aus Katar, wo über eine Freilassung verhandelt wird, sind jedoch ernüchternd. Es gebe eine große Kluft zwischen den Positionen und gegenseitige Schuldzuweisungen.
Manche Experten halten es für wahrscheinlich, dass die Hamas mittlerweile an einem Scheitern der Verhandlungen mehr Interesse hat als an einer Waffenruhe. Das vermutet auch der in mehreren israelischen Zeitungen zitierte Micah Kobi, ehemals ranghoher Ermittler des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Laut Micah Kobi setzt Hamas-Chef Yahya Sinwar auf eine weitere Verschlechterung der humanitären Lage im Gazastreifen. Dadurch soll der internationale Druck auf Israel weiter steigen und letzten Endes Israel dazu zwingen, den Krieg zu beenden, ohne dass weitere Zugeständnisse von der Hamas notwendig sind.
Über den Aufenthaltsort der Geiseln ist derzeit nichts bekannt. Über den Aufenthaltsort von Yahya Sinwar ebenfalls nicht. Es gilt jedoch als gesichert, dass sich Sinwar stets mit einem Schutzring aus israelischen Geiseln umgibt, und es wird vermutet, dass er ständig in Bewegung ist – im weit verzweigten Tunnelsystem der Hamas. Laut israelischen Schätzungen erreicht dieses Tunnelsystem unter dem 365 Quadratkilometer großen Gazastreifen eine Länge von bis zu 700 Kilometern. Zum Vergleich: Die unterirdischen Abschnitte des Wiener U-Bahn-Netzes sind auf einer Fläche von 415 Quadratkilometern knapp 42 Kilometer lang.
Irgendwo in diesen Tunneln werden auch die 134 toten und lebendigen Geiseln vermutet. Aussagen freigelassener Geiseln und Funde der israelischen Armee von unterirdischen Käfigen und Bunkerräumen legen diese Annahme nahe.
Israel hat bisher den Tod von 33 Geiseln offiziell bestätigt. Die Identitäten der Opfer sind nur ihren Familien bekannt. Befürchtet wird, dass bis zu 50 Geiseln mittlerweile tot sind. Die letzten Verhandlungen
über einen Geisel-Deal sind vor zwei Wochen gescheitert, unter anderem, weil sich die Hamas geweigert hatte, eine Liste noch lebender Geiseln an Israel zu übermitteln. Die Begründung: Man wisse nicht, wer von den Geiseln noch lebe und wo die einzelnen Geiseln seien. Ein Überblick sei nur bei einer Waffenpause möglich. Stimmt das?
Es gilt als gesichert, dass die ursprünglich 253 nach Gaza verschleppten Geiseln nach dem 7. Oktober unter mehreren Terrorgruppen aufgeteilt wurden. Laut Micah Kobi hat die Hamas im November einer Waffenruhe auch deshalb zugestimmt, weil sie sich militärisch
formieren wollte, ihre Anführer in Sicherheit bringen und sich einen Überblick über die Geiseln verschaffen wollte. Ob die Hamas nun wieder den Überblick verloren hat, kann, muss aber nicht stimmen.
Es ist unklar, ob es zu einer Freilassung weiterer Geiseln kommen wird. Die Ungewissheit setzt den Angehörigen immens zu. Worüber aber Gewissheit herrscht: Berichte und Untersuchungen belegen eindrücklich, dass jene Israelis, die freigekommen sind, und auch jene, die vielleicht noch freikommen werden, für den Rest ihres Lebens gezeichnet sind – und mit ihnen ein ganzes Land.