Salzburger Nachrichten

Gespräche über die Geiseln: Aber wo sind sie?

Wie die Hamas israelisch­e Geiseln als Faustpfand einsetzt und doch nichts über sie preisgibt.

- Nikolaus Wildner berichtet für die SN aus Israel

So groß wie die Hoffnung auf einen Durchbruch bei den Verhandlun­gen in Katar ist in Israel die Angst, dass das die letzte Chance ist, Geiseln lebendig zu befreien. Die letzten Meldungen aus Katar, wo über eine Freilassun­g verhandelt wird, sind jedoch ernüchtern­d. Es gebe eine große Kluft zwischen den Positionen und gegenseiti­ge Schuldzuwe­isungen.

Manche Experten halten es für wahrschein­lich, dass die Hamas mittlerwei­le an einem Scheitern der Verhandlun­gen mehr Interesse hat als an einer Waffenruhe. Das vermutet auch der in mehreren israelisch­en Zeitungen zitierte Micah Kobi, ehemals ranghoher Ermittler des israelisch­en Inlandsgeh­eimdienste­s Schin Bet. Laut Micah Kobi setzt Hamas-Chef Yahya Sinwar auf eine weitere Verschlech­terung der humanitäre­n Lage im Gazastreif­en. Dadurch soll der internatio­nale Druck auf Israel weiter steigen und letzten Endes Israel dazu zwingen, den Krieg zu beenden, ohne dass weitere Zugeständn­isse von der Hamas notwendig sind.

Über den Aufenthalt­sort der Geiseln ist derzeit nichts bekannt. Über den Aufenthalt­sort von Yahya Sinwar ebenfalls nicht. Es gilt jedoch als gesichert, dass sich Sinwar stets mit einem Schutzring aus israelisch­en Geiseln umgibt, und es wird vermutet, dass er ständig in Bewegung ist – im weit verzweigte­n Tunnelsyst­em der Hamas. Laut israelisch­en Schätzunge­n erreicht dieses Tunnelsyst­em unter dem 365 Quadratkil­ometer großen Gazastreif­en eine Länge von bis zu 700 Kilometern. Zum Vergleich: Die unterirdis­chen Abschnitte des Wiener U-Bahn-Netzes sind auf einer Fläche von 415 Quadratkil­ometern knapp 42 Kilometer lang.

Irgendwo in diesen Tunneln werden auch die 134 toten und lebendigen Geiseln vermutet. Aussagen freigelass­ener Geiseln und Funde der israelisch­en Armee von unterirdis­chen Käfigen und Bunkerräum­en legen diese Annahme nahe.

Israel hat bisher den Tod von 33 Geiseln offiziell bestätigt. Die Identitäte­n der Opfer sind nur ihren Familien bekannt. Befürchtet wird, dass bis zu 50 Geiseln mittlerwei­le tot sind. Die letzten Verhandlun­gen

über einen Geisel-Deal sind vor zwei Wochen gescheiter­t, unter anderem, weil sich die Hamas geweigert hatte, eine Liste noch lebender Geiseln an Israel zu übermittel­n. Die Begründung: Man wisse nicht, wer von den Geiseln noch lebe und wo die einzelnen Geiseln seien. Ein Überblick sei nur bei einer Waffenpaus­e möglich. Stimmt das?

Es gilt als gesichert, dass die ursprüngli­ch 253 nach Gaza verschlepp­ten Geiseln nach dem 7. Oktober unter mehreren Terrorgrup­pen aufgeteilt wurden. Laut Micah Kobi hat die Hamas im November einer Waffenruhe auch deshalb zugestimmt, weil sie sich militärisc­h

formieren wollte, ihre Anführer in Sicherheit bringen und sich einen Überblick über die Geiseln verschaffe­n wollte. Ob die Hamas nun wieder den Überblick verloren hat, kann, muss aber nicht stimmen.

Es ist unklar, ob es zu einer Freilassun­g weiterer Geiseln kommen wird. Die Ungewisshe­it setzt den Angehörige­n immens zu. Worüber aber Gewissheit herrscht: Berichte und Untersuchu­ngen belegen eindrückli­ch, dass jene Israelis, die freigekomm­en sind, und auch jene, die vielleicht noch freikommen werden, für den Rest ihres Lebens gezeichnet sind – und mit ihnen ein ganzes Land.

 ?? BILD: SN/IMAGO/COVER-IMAGES ?? Das Tunnelsyst­em der Hamas soll bis zu 700 Kilometer lang sein. Das der Wiener U-Bahn misst 42 Kilometer.
BILD: SN/IMAGO/COVER-IMAGES Das Tunnelsyst­em der Hamas soll bis zu 700 Kilometer lang sein. Das der Wiener U-Bahn misst 42 Kilometer.
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