Salzburger Nachrichten

„Judenhass ist Teil von Viktor Orbáns Politik“

- INGO HASEWEND

Paul Lendvai ist der Doyen der Journalist­en in Österreich. Auch mit 94 Jahren gönnt er sich keine Ruhe. Ein Gespräch über zynische Politik und Heuchelei.

WIEN. Paul Lendvai empfängt voller Fröhlichke­it und Elan in seiner Dachwohnun­g in Wien. Der Doyen der österreich­ischen Außenpolit­ikjournali­sten schaut auf ein besonderes Jahr. Am 24. August feiert der Professor seinen 95. Geburtstag und tourt mit seinem 20. Buch durch das Land. Auch dieses Mal widmet er einen Großteil seiner Ausführung­en den Potentaten im Osten. Aber nicht nur: Denn Lendvai hat in seinen jahrzehnte­langen Beobachtun­gen der Weltpoliti­k eine Konstante entdeckt: die Heuchelei. Und so ist ein Werk „Über die Heuchelei“entstanden.

SN: Lässt sich aus der langen Distanz des Lebenswege­s Heuchelei besser erkennen?

Paul Lendvai: Ursprüngli­ch wollte ich ein Buch über Selbsttäus­chung in der Politik schreiben. Die Idee, das mit der Heuchelei zu verbinden, kam von einer Lektorin meines alten Verlages, dessen Verleger aber dann starb.

SN: Was ist so besonders an der Heuchelei?

Die Heuchelei spielt im Alltag eine große Rolle, aber in der Politik eine besonders starke. Das ist natürlich nicht neu. Schon Michel de Montaigne hat über die Heuchelei geschriebe­n. Aber aktuell sehen wir die Politik gegenüber Russland und gleichzeit­ig Politiker, wie sie wirklich sind. So offensicht­lich passiert das selten. Diese Kommunikat­ion macht die Täuschung und die Heuchelei viel schneller sichtbar.

SN: Hat sich das mit den neuen Medien verändert?

Da bin ich mir nicht sicher. Schon der französisc­he Begründer der Massenpsyc­hologie, Gustave Le Bon, hat Mitte des 19. Jahrhunder­ts geschriebe­n, wie Menschen irregeführ­t werden. Aber die Formen, die Intensität und das Erkennen der Heuchelei haben sich verändert.

SN: Ist Heuchelei nicht ein fester Teil des Politikpro­zesses?

Nehmen wir die Europäisch­e Union als Beispiel. Da fährt Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán zum Begräbnis von Jacques Delors nach Paris und schüttelt dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron die Hand. Delors ist einer der wichtigste­n Architekte­n der EU und Orbán der Mann, der gegen die EU eine Kampagne führt und gleichzeit­ig von der EU so viel Geld bekommt. Orbán tut alles dafür, die EU ohne oder mit Auftrag Putins zu untergrabe­n. Das ist die hohe Schule der Heuchelei. Unfassbar eigentlich. Oder schauen wir auf den slowakisch­en Ministerpr­äsidenten, der Probleme mit der Korruption und einem politische­n Mord gehabt hat. Die beiden sind Nationalis­ten, wenn es um die Macht geht, und vergessen dabei alles andere.

SN: Sie widmen sich auch Putin. Warum wurde er von vielen Politikern so lange überhört?

Er ist ein Geheimdien­stler und dazu gehört, sich zu verstellen. Leute wie Heinz Fischer berufen sich immer auf seine Rede von 2001 im Deutschen Bundestag. Dort hat er auf Deutsch gesprochen. Manche Menschen haben Tränen in den Augen, wenn sie sich daran erinnern. Aber mit jeder Aktion wurde seine Politik offensicht­licher. Erst Georgien, dann die unglaublic­hen Dinge, die mit seinen Kritikern wie Anna Politkowsk­aja und Boris Nemzow passierten. Schließlic­h die Krim-Besetzung 2014. Hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Erstens die unglaublic­he Stärke seiner Propaganda in den klassische­n und sozialen Medien und die immensen Geldbeträg­e, die er dafür ausgibt. Man muss offen sagen, dass in Frankreich führende Politiker direkt oder indirekt bestochen wurden. Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder hat sich 40 Mal mit Putin getroffen und war kurz nach seiner Abwahl schon in Putins Firma.

SN: Geld ist also ein Antrieb von Heuchelei?

Leute wollen im Ruhestand gerne weiterhin gut leben. Das ist eine Charakters­chwäche. Bei den Deutschen kommt ein gerechtfer­tigtes Schuldgefü­hl hinzu, was sie in der Vergangenh­eit angestellt haben. Das gibt es auch in Österreich. Ich erinnere an die ORF-ZentrumsSe­ndung im Jänner 2022, also einen Monat vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Dort sprach der frühere SPÖ-Kanzler Christian Kern, der damals noch im Aufsichtsr­at der russischen Staatsbahn­en war. Sein wichtigste­s Argument: Die Zahlung betrage doch nur 2000 oder 3000 Euro monatlich. Es geht aber nicht ums Geld, sondern um Kontakte und die Symbolik.

Kern beruft sich auf das Argument, dass viele Russen für die Befreiung Österreich­s gekämpft haben und gestorben sind. Man sagt bei uns immer nur Russen, dabei waren bei der Befreiung damals auch Ukrainer und andere beteiligt.

SN: Putin hat also strategisc­h vorgeplant?

Putin hat den größten Fehler seiner politische­n Karriere begangen mit diesem unüberlegt­en Krieg. Wir sehen aber Nationen, die Putin von Anfang an zögernd gegenüberg­etreten sind. Balten und Polen, die andere Erlebnisse mit den Russen haben, benehmen sich anders als die Deutschen oder Franzosen. Andersheru­m kümmern sich Staaten wie Südafrika, Brasilien oder manche Staaten des Südens aus eigenen Interessen nicht um Russlands Vorgehen. Das ist ein Hochamt der Heuchelei. Wir haben aus der Geschichte nicht gelernt. Es ist so, wie Christophe­r Clark in seinem berühmten Buch „Die Schlafwand­ler“über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschriebe­n hat.

SN: Was ist in Russland schiefgela­ufen?

Dort hat man geglaubt, dass es schneller gehen wird – vor allem die Finanziers im In- und Ausland, die schnell Geld schöpfen wollten. In China sehen wir hingegen, wie langsam neue Strukturen entstanden sind: ein Staatskapi­talismus, der halb privat und halb staatlich ist. So hat es auch in Russland begonnen, doch die Diktaturen funktionie­rten nicht analog. Ich glaube also nicht, dass man dem Westen allein die Schuld geben muss, denn immerhin hat man sogar mit der Idee gespielt, Russland in die Nato aufzunehme­n.

SN: Warum hält sich Orbán so dicht an Putin?

Das ist ein Rätsel. Es gibt gewisse Hinweise. Vor Kurzem erschien eine Orbán-Biografie von einem italienisc­hen Ungarn-Experten, der zwölf Jahre in Ungarn gelebt hat. Er beschreibt das erste Treffen von Orbán 2009 in Sankt Petersburg mit Putin. Der Autor beruft sich auf Hinweise, die er aber nicht bewiesen hat. Demnach liegt etwas gegen Orbán vor. Immerhin haben die Russen aus allen Ostländern Dokumente aus den Kanzleien und von den Geheimdien­sten mitgenomme­n. Demnach wurde Orbán unter Druck gesetzt. Es scheint mir möglich. Denn begonnen hat er seine Politik links.

SN: Was ist passiert?

Orbán hat gesehen, dass für seine kleine, junge Partei nur rechts von der Mitte Platz ist. Er hat ein großes politische­s Geschick und ist ein gerissener Taktiker. 1998 bekam er mit seinen Koalitions­partnern eine Mehrheit, verlor 2002 aber die Wahlen. 2010 kam er zurück und seit 2018 geht er offiziell den Weg einer illiberale­n Demokratie. Putin hat sich mit keinem anderen EUPolitike­r so oft getroffen wie mit Orbán, elf Mal sogar unter vier Augen. So wie er Ungarns Politik führt, muss man sagen, er ist de facto der verlängert­e Arm der russischen Politik innerhalb der Europäisch­en Union. Er hat das als Konsolidie­rung seiner Machtposit­ion gesehen und danach gehandelt. Putin würde ihn nie dafür kritisiere­n, dass er eine Halbdiktat­ur aufgebaut hat mit einer demokratis­chen Fassade. In Wirklichke­it ist das eine Einmannher­rschaft.

SN: Hat uns Orbán damals alle getäuscht?

Er hat sich zwei Mal gewandelt. Erst von Mitte links nach rechts und dann noch einmal mehr nach rechts nach der Niederlage 2002. Das ungarische Wahlgesetz ermöglicht es, dass man leicht eine Zweidritte­lmehrheit bekommen kann. Das war auch schon 1994 so. Damals gewann die Nachfolgep­artei der Kommuniste­n eine absolute Mehrheit und ging eine Koalition mit den Liberalen ein. Sie hatten zusammen eine Dreivierte­lmehrheit, aber es passierte nichts und sie waren zudem korrupt. Aber die Verfassung und die verfassung­smäßigen Bremsen wurden nicht angerührt. Das hat Orbán nur benützt. Er hat das erkannt und von Anfang an mit großem Eifer und Geschick durchgeset­zt.

SN: Können Sie sich vorstellen, dass die Heuchelei gegenüber Russland sich daraus speist, dass man sich schwer vorstellen konnte, dass ein Volk dauerhaft auf Autokraten reinfällt?

Ja, das ist möglich. Die Geschichte hält genug Beispiele parat. Nehmen Sie das Bündnis, das die westliche Allianz mit Stalin gegen das Dritte Reich geschlosse­n hat. Oder die große Enttäuschu­ng nach 1990, den Hass, den Nationalis­mus und Rassismus in Jugoslawie­n. Für mich war das, obwohl ich mich damit jahrzehnte­lang beschäftig­t habe, eine Überraschu­ng. Österreich wiederum ist ein Gegenbeisp­iel. Wenn man die Erste und die Zweite Republik vergleicht, sieht man, dass man aus der Geschichte zu einem hohen Preis lernen kann.

Ein Beispiel von Heuchelei ist Orbáns Umgang mit George Soros. Ist er antijüdisc­h eingestell­t oder ist das nur Taktik?

SN:

Das kann ich nicht wirklich sagen. Es gibt keine Bemerkunge­n zum Judenhass von Orbán. Aber es gibt Reden, die diesen Eindruck erwecken. Bei Soros unvermeidl­ich, wenn jemand zum Dämon stilisiert wird, der Ungar war und Amerikaner wurde, dazu ein Jude und reich ist. Jeder weiß also, was gemeint ist, wenn man Soros sagt. Persönlich glaube ich, dass Orbán ein zynischer Operateur ist. Hinzu kommt, dass alle Geschichts­bücher in Ungarn umgeschrie­ben werden, dass das Bildungssy­stem zerrüttet ist und damit die jungen Generation­en nicht lernen, was in der Vergangenh­eit passiert ist und Vergangenh­eit nicht aufgearbei­tet wird. In der Mitte der Hauptstadt Budapest wurde ein riesiges Denkmal errichtet. Die ungarische Lesart: Die Deutschen haben alles Schlimme gemacht. Und nicht: 200.000 ungarische Gendarmen haben mitgeholfe­n. Judenhass ist also Teil von Viktor Orbáns Politik, unabhängig davon, ob er persönlich so denkt.

Paul Lendvai wurde 1929 in Budapest geboren und lebt seit 1957 in Wien. Er ist Leiter des ORF-Europastud­ios, Kolumnist für den „Standard“, Träger zahlreiche­r Auszeichnu­ngen und Autor von mittlerwei­le 20 Büchern.

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Buch: Paul Lendvai: „Über die Heuchelei“. Wien 2024. ZsolnayVer­lag. 176 Seiten. 24,50 Euro.
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BILD: SN/APA/ROBERT JAEGER Paul Lendvai

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