Salzburger Nachrichten

Erdo˘gan bröckelt die Basis weg

Die Türkei hat eine neue politische Landkarte. Aber noch immer einen Präsidente­n, der versuchen wird, das zu ignorieren.

- Gerd Höhler AUSSEN@SN.AT

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat hoch gepokert – und verloren. Zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnte­n an der Staatsspit­ze erlitt er an den Wahlurnen eine klare Niederlage. Seine islamisch-konservati­ve AKP landete bei den Kommunalwa­hlen vom Sonntag auf dem zweiten Platz.

Erdoğan kann das Debakel nicht auf schwache Kandidaten schieben. Dazu hat er sich selbst viel zu stark in den Wahlkampf eingebrach­t. Fast täglich absolviert­e er in den Wochen vor dem Urnengang Kundgebung­en. Er machte damit die Kommunalwa­hl zu einer Abstimmung über das System Erdoğan. Allein in Istanbul, seiner Heimatstad­t, trat Erdoğan sechs Mal auf. Hätte die AKP dort gewonnen, es wäre Erdoğans Sieg gewesen. Jetzt ist es seine Niederlage.

Die Gründe liegen nicht nur in der Wirtschaft­skrise, die Erdoğan mit seiner jahrelange­n Politik des billigen Geldes selbst herbeigefü­hrt hat. Immer mehr junge Menschen in den Städten lehnen sich auf gegen die Gängelung und die schleichen­de Islamisier­ung von Staat und Gesellscha­ft. Noch nie haben so viele Türkinnen und Türken in der EU um Asyl angesucht wie jetzt. Fast zwei Drittel aller türkischen Jugendlich­en im Alter von 18 bis 25 möchten am liebsten auswandern, so eine Untersuchu­ng vom vergangene­n Jahr.

Erdoğan kündigt nun „Selbstkrit­ik“an. Er ist schon oft politisch totgesagt worden, hat aber bisher alle Rückschläg­e weggesteck­t, von den landesweit­en Massenprot­esten im Frühjahr 2013 über die wenig später aufgekomme­nen Korruption­svorwürfe bis zum Putschvers­uch im Sommer 2016.

Jetzt vom Ende Erdoğans zu sprechen wäre deshalb verfrüht. Abzuwarten bleibt, welche Konsequenz­en Erdoğan aus der Niederlage zieht. Er ist keiner, der leicht aufgibt. Dass er sich nun auf die Werte der Demokratie und des Rechtsstaa­ts besinnt, ist kaum anzunehmen. Wahrschein­licher ist, dass er nun seine Pläne für eine Verfassung­sreform vorantreib­t, mit der er sich noch mehr Macht und die Möglichkei­t einer weiteren Amtszeit als Präsident verschaffe­n könnte.

Der Druck auf die Opposition, Regierungs­kritiker und Bürgerrech­tler dürfte wachsen. Der siegreiche Istanbuler Oberbürger­meister İmamoğlu hat sich zwar als ernsthafte­r Konkurrent für Erdoğan erwiesen. Er ist nun ein möglicher Anwärter auf die Präsidents­chaft, sieht sich aber mit einem Strafverfa­hren konfrontie­rt, das zu einem Politikver­bot führen könnte. Und Erdoğans Amtszeit läuft noch bis 2028 – vier Jahre, in denen viel passieren kann.

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