Ein frischer Wind weht in der Türkei
Recep Tayyip Erdoğan bröckelt die Basis weg. Sie sandte dem Präsidenten bei den Kommunalwahlen eine deutliche Botschaft.
Seit seiner Wahl zum Istanbuler Oberbürgermeister vor 30 Jahren hat Recep Tayyip Erdoğan keinen Urnengang verloren – bis jetzt. Bei den türkischen Kommunalwahlen am Sonntag bekamen die Kandidaten der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) landesweit die meisten Stimmen. Erdoğans islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) erlitt massive Verluste und liegt auf dem zweiten Platz. Besonders demütigend ist für Erdoğan die Niederlage in Istanbul, wo er 1994 seine politische Karriere begonnen hatte.
Erdoğan selbst hatte sich mit einem halben Dutzend Wahlkampfkundgebungen während der vergangenen Wochen persönlich für seinen Bürgermeisterkandidaten Murat Kurum ins Zeug gelegt. Trotzdem verlor der frühere Umweltminister klar gegen den CHPOberbürgermeister Ekrem İmamoğlu. Erdoğans Hoffnung, die 2019 nach 25 Jahren erstmals von der bürgerlich-sozialdemokratischen CHP gewonnene BosporusMetropole zurückzuerobern, ist damit zerschlagen. Der Gewinner İmamoğlu erklärte am Sonntagabend vor jubelnden Anhängern: „Die Türkei wird nun in einer neuen Ära der Demokratie aufblühen!“
Der Verlust von Istanbul war nicht das einzige Debakel für Erdoğan. Auch in der Hauptstadt Ankara konnte sich der CHP-Oberbürgermeister behaupten, mit einem Vorsprung von 28 Prozentpunkten gegenüber dem AKP-Kandidaten. Die Regierungspartei konnte keine der Großstädte, die sie 2019 an die Opposition verloren hatte, zurückgewinnen. Besonders schmerzhaft für Erdoğan ist neben dem Verlust von Istanbul, dass nun auch die westtürkische Großstadt Bursa, ein Zentrum der türkischen Textil- und Automobilindustrie, an die CHP ging.
Als am Montagmorgen fast alle Stimmen ausgezählt waren, lag die größte Oppositionspartei landesweit mit einem Stimmenanteil von 37 Prozent knapp vor der AKP mit 36 Prozent. Auch das hat es seit dem ersten Wahlsieg der Erdoğan-Partei im Jahr 2002 noch nicht gegeben. Die CHP gewann 36 der 81 Provinzen. Die AKP konnte im Wesentlichen nur ihre Position in den eher ländlichen Regionen Anatoliens und an Teilen der Schwarzmeerküste behaupten. Dort lebt Erdoğans streng religiös und konservativ geprägte Kernwählerschaft.
In den überwiegend kurdisch besiedelten Südostprovinzen konnte die prokurdische Partei DEM erwartungsgemäß mehr als 60 Rathäuser gewinnen, wie schon 2019. Nach der damaligen Wahl ließ Erdoğan allerdings die meisten kurdischen Bürgermeister wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Terrororganisation PKK ihrer Ämter entheben und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzen.
Wie Erdoğan jetzt mit den kurdischen Kommunalpolitikern umgeht, könnte erste Rückschlüsse auf seinen künftigen Kurs zulassen. Am
späten Sonntagabend flog der Präsident von Istanbul nach Ankara, wo er vor der Parteizentrale der AKP zu seinen Anhängern sprach. „Wir haben leider nicht die Ergebnisse erzielt, die wir erwartet und erhofft haben“, sagte Erdoğan. Die AKP habe in der gesamten Türkei „an Höhe verloren“. Der Präsident kündigte „Selbstkritik“an: „Wir werden unsere Fehler korrigieren und Unzulänglichkeiten beseitigen.“
Die Wahl fand vor dem Hintergrund einer zunehmend schwierigen Wirtschaftslage statt. Die Inflation, die im Februar 67 Prozent
erreichte, zehrt an der Kaufkraft der Menschen. Wohnungsmieten, Energiekosten, selbst Grundnahrungsmittel sind für viele unerschwinglich geworden. Als eine der Ursachen der Krise gelten Erdoğans Einmischungen in die Geldpolitik: Um die Wirtschaft mit billigen Krediten anzukurbeln, musste die türkische Zentralbank jahrelang auf Erdoğans Weisung die Zinsen niedrig halten. Erst im vergangenen Sommer warf Erdoğan das Ruder herum und gab der Notenbank freie Hand für Zinserhöhungen. Seither stieg der Leitzins von 8 auf 50 Prozent.
Der 70-jährige Erdoğan steht seit über zwei Jahrzehnten an der Staatsspitze, zuerst als Premierminister und seit 2014 als Präsident. Er prägte die Türkei wie kein anderer Politiker seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der das Land von 1923 bis 1938 führte. Mit einer Verfassungsreform schaffte Erdoğan 2018 das parlamentarische System ab und sicherte sich als Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitzender in Personalunion eine Machtfülle, wie sie kein anderer westlicher Staats- oder Regierungschef besitzt. Wegen seines zunehmend autoritären Regierungsstils, der Verfolgung politischer
Gegner, der Gängelung der Justiz und Einschränkungen der Meinungsfreiheit steht Erdoğan im Westen in der Kritik.
Mit dieser Kommunalwahl hat sich die politische Landschaft in der Türkei verändert. Der 53-jährige Istanbuler Oberbürgermeister İmamoğlu gilt nach seinem neuerlichen Wahlsieg nun als Anwärter auf das Präsidentenamt. Es muss spätestens 2028 neu gewählt werden. Nach den Bestimmungen der Verfassung kann Erdoğan eigentlich nicht für eine weitere Amtszeit kandidieren.
Er will allerdings seit Langem eine Verfassungsänderung, wohl auch mit dem Ziel, sich eine erneute Kandidatur oder gar eine Amtsführung auf Lebenszeit zu sichern. Und ob İmamoğlu überhaupt bei der nächsten Präsidentenwahl antreten kann, ist ungewiss: Gegen ihn läuft ein Strafverfahren wegen Beleidigung, weil er 2019 die Mitglieder des Obersten Wahlrates als „Dummköpfe“bezeichnet hatte. Dafür wurde İmamoğlu 2022 in erster Instanz zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt. Der Politiker ging in Berufung. Sollte das Urteil in zweiter Instanz bestätigt werden, droht İmamoğlu ein mehrjähriges Politikverbot. Damit wäre Erdoğans stärkster Konkurrent kaltgestellt.