Wer bestimmt, was wir hören?
Ohne Empfehlungen wäre es auf Spotify und Co. schwer, Musik zu entdecken. Aber machen Algorithmen faire Vorschläge? Das beleuchtet eine Forscherin in Salzburg.
Vielfalt ohne Ende: Mit dem Versprechen locken Musikstreamingdienste ihre Kundschaft. Mehr als 100 Millionen Tracks stehen bei Spotify auf Abruf zur Verfügung – und täglich werden es mehr. Vor einigen Wochen machte aber auch eine andere plakative Zahl Schlagzeilen: 24,8 Prozent aller Titel, die bei den Streaminganbietern zur Auswahl stünden, seien 2023 nie angehört worden, heißt es im aktuellen Jahresreport des US-Datendienstes Luminate, über den etwa die „Financial Times“berichtete. Ein Viertel aller Songs findet demnach also nicht den Weg aus der Datenbank in die Kopfhörer der Nutzerinnen und Nutzer.
Liegt das an mangelnden künstlerischen Qualitäten bei einem Großteil der hochgeladenen Werke? Oder an den schnell wechselnden Trends, denen manche Nummern entsprechen und viele andere eben nicht? Oder ist das Finden neuer Musik im Songdickicht die größte Hürde?
„Als Hörerinnen und Hörer sind wir mit einer so großen Auswahl natürlich überfordert“, sagt die Forscherin Christine Bauer. Wer bei einem Streamingdienst Musik höre, sei daher auf Möglichkeiten angewiesen, das unüberblickbare Angebot zu filtern. „Und hier kommen Empfehlungssysteme ins Spiel.“Sie errechnen aus unserem bisherigen Hörverhalten und aus den Vorlieben anderer Personen mit ähnlichem Profil Vorschläge, was uns als Nächstes gefallen könnte.
Die Erforschung solcher interaktiver, intelligenter Systeme ist ein Schwerpunkt von Christine Bauer, die als Professorin am Fachbereich Artificial Intelligence and Human Interfaces der Universität Salzburg lehrt. In ihren Forschungsprojekten untersucht sie auch, wie fair oder unfair die errechneten Empfehlungen
aus der Perspektive von Musikerinnen und Musikern sind.
Bei den meisten Studien zu Vorschlagssystemen stehe die Frage im Zentrum, wie exakt sie den Geschmack der Kundinnen und Kunden aufgrund ihrer Nutzungsprofile erkennen und bedienen könnten, erläutert Christine Bauer. Für Künstlerinnen und Künstler hingegen gebe es meist wenige Anhaltspunkte zum Umgang mit den Algorithmen. Wie sie ihre Vorschläge genau errechnen, ist ein gut gehütetes Geheimnis der jeweiligen Plattformen. Bei der Frage, welche Parameter in die Empfehlungen mit einfließen, gibt es kaum Transparenz.
Für eines ihrer Forschungsprojekte, das Christine Bauer mit Andrés Ferraro durchführte, habe das Team daher zunächst erhoben, was aus Künstlersicht bei den Empfehlungssystemen anders funktionieren sollte. „Wir haben Interviews
mit Musikerinnen und Musikern unterschiedlichster Popularitätsgrade geführt, um auszuloten, wo die Problemzonen liegen“, erläutert die Wissenschafterin. Aus den Antworten sei „vor allem das Thema der Gender-Balance sehr stark hervorgestochen“.
In der Musikbranche gibt es traditionell eine große Schieflage zwischen männlichen und weiblichen Protagonisten: „Je nach Genre liegt der Frauenanteil traditionell bei 20 bis 25 Prozent“, berichtet die Wissenschafterin und Musikerin.
Könnte sich in der Streaming-Ära daran etwas ändern, wenn die Empfehlungssysteme dieses Ungleichgewicht berücksichtigen und gleichsam ausbalancieren? In Computersimulationen spielte das Projektteam anhand von öffentlich verfügbaren Hördaten unterschiedliche Szenarien durch. Die ersten Ergebnisse seien wenig überraschend gewesen: „Die Vorschläge des Empfehlungssystems spiegelten den IstZustand auf dem Musikmarkt, die Prozentzahlen waren annähernd gleich“, sagt Christine Bauer. In nächsten Schritten sei versucht worden, die Modelle dahin zu führen, dass in den Empfehlungen mehr Diversität Platz finde – ohne dass die Treffsicherheit der Vorschläge darunter leide. „Wir haben mit verschiedenen Ansätzen experimentiert und die Erkenntnis war: Es ist durchaus möglich.“
Weil beim Musikkonsum letztlich der individuelle Geschmack über Klickzahlen entscheide, sei Fairness freilich ein schwer zu fassendes Kriterium, betont Bauer. In einer Playlist mit den aktuell größten Hits wäre es „auch schwer möglich, sich etwa auf Quoten für faire Repräsentation in Bezug auf Geschlecht, Region oder andere Parameter festzulegen“. In anderen Bereichen
des Musikkonsums, wo nicht unbedingt einzelne Stars im Mittelpunkt stünden, sondern Musik etwa als Hintergrund für Arbeit oder Entspannung genutzt werde, „gäbe es durchaus Möglichkeiten, mehr auf Diversität zu achten“.
Je weniger transparent die Empfehlungssysteme arbeiteten, umso wichtiger sei zudem ein wissenschaftlicher Blick auf ihre Mechanismen. Diese Undurchsichtigkeit stelle auch Musikerinnen und Musiker in der Streaming-Ära vor Herausforderungen: „Sie müssen selbst fast wie in der Forschung experimentieren und beobachten, wie sich die Präsenz ihrer Musik auf einer Plattform verbessern lassen
„Viele haben ein Gefühl der Machtlosigkeit.“Christine Bauer,
könnte. Viele haben ein Gefühl der Machtlosigkeit: Ob die Musik nach dem Hochladen bemerkt wird, haben sie kaum in der Hand. Die Plattform ist wie eine Blackbox.“In den Interviews sei daher oft auch der Wunsch nach mehr Möglichkeiten aufgetaucht, auch als Künstlerin oder Künstler eigene Präferenzen definieren zu können: Etwa bei der Entscheidung, welchen Tracks aus dem neuen Album der Algorithmus im Zweifelsfall den Vorzug geben solle, oder ob das System eher Songs aus dem aktuellen Schaffen oder aus früheren Phasen berücksichtigen solle.
Die eigene Musik erst gar nicht auf den Plattformen hochzuladen und sich so den Empfehlungssystemen zu verweigern sei für Musikerinnen und Musiker indes keine sinnvolle Alternative. „Wir hören uns zwar nicht alles an, was wir angeboten bekommen“, resümiert Christine Bauer. Aber umgekehrt gelte: „Was wir gar nicht angeboten bekommen, wird sehr wahrscheinlich auch nicht konsumiert.“