Das Undenkbare und seine Folgen
Der iranische Angriff auf Israel verändert die Regeln des Konflikts zwischen den Erzfeinden unumkehrbar. Der Weg zurück zum bisherigen Status quo im Schattenkrieg des Iran gegen Israel scheint versperrt zu sein.
Was viele bis zuletzt nicht für möglich gehalten haben, ist in der Nacht auf Sonntag passiert: Der Iran hat Israel von seinem eigenen Staatsgebiet aus angegriffen – mit einem massiven Luftschlag aus insgesamt rund 350 Kampfdrohnen, ballistischen Raketen und Marschflugkörpern. Dass bei diesem Angriff nur eine Person – ein siebenjähriges arabischisraelisches Mädchen – verletzt wurde und nur leichter Sachschaden auf einem israelischen Luftwaffenstützpunkt entstanden ist, ist ein Erfolg der israelischen Luftabwehr – in Zusammenarbeit mit den verbündeten Luftwaffen der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Jordaniens. Alleine die jordanische Luftwaffe hat Dutzende Kampfdrohnen über ihrem eigenen Luftraum abgefangen.
Der geringe Schaden des iranischen Angriffs auf Israel könnte aber über mehrere Dinge hinwegtäuschen. Erstens war die Meldung von dem Angriff ein beispielloser Schock für die israelische Bevölkerung. Wer die Nacht auf Sonntag in Israel miterlebt hat, weiß, dass die vier bis fünf Stunden zwischen der Meldung des Angriffs und seiner Abwehr für die Menschen in Israel eine extreme Belastung waren.
Zweitens ist man die hohe Erfolgsquote der israelischen Luftabwehr – die diesmal offiziell bei 99 Prozent liegt – mittlerweile gegen weniger komplexe Bedrohungen wie durch die Hamas aus Gaza gewöhnt. Das täuscht darüber hinweg, wie viel Entwicklung, Arbeitseinsatz und Kosten für Israels mehrschichtigen Schutzschild aus Abwehrraketen aufgewendet werden müssen. Brigadegeneral Reem Aminoach, früherer Finanzberater des israelischen Generalstabschefs, hat die Kosten der Abwehr des iranischen Angriffs Samstagnacht gegenüber der Tageszeitung „Jedi’ot Acharonot“auf vier bis fünf Milliarden Schekel, also mehr als eine Milliarde Euro, geschätzt. In einer einzigen Nacht.
Und drittens: Der Angriff, den der Iran gegen Israel durchgeführt hat, ist aus israelischer Sicht trotz des geringen Schadens alles andere als die angekündigte „kontrollierte“Reaktion auf die Israel zugeschriebene Tötung iranischer Generäle durch einen Luftangriff auf ein iranisches Botschaftsgebäude in Damaskus Anfang April. Viel eher ist es ein völliger Bruch der bisherigen Regeln, ein Wandel vom Schattenkrieg zum offenen Krieg, mit derzeit noch völlig unklaren Folgen für den Konflikt.
Nach herkömmlichen Gesichtspunkten befindet sich Israel jetzt in der Lage, reagieren zu müssen, und zwar hart. Israels Sicherheit und Existenz basieren auf dem Prinzip der Abschreckung. Israels Feinde in der Region sollen
nicht den Eindruck bekommen, Israel ungestraft angreifen zu können. Die Frage, wie
Israel gelingen soll, den Iran wieder das Fürchten zu lehren, dürfte Israels Führung derzeit einiges an Kopfzerbrechen bereiten.
Trotz des umfangreichen und effektiven Beistands der USA bei der Abwehr des iranischen
Angriffs hat US-Präsident Joe Biden Israels Premier Netanjahu wissen lassen: Die USA raten Israel dringend von einem Gegenangriff ab und sind auch nicht bereit, sich daran aktiv zu beteiligen. Wie der Analyst der israelischen Tageszeitung „Haaretz“, Amos Harel, herausstreicht, könnte das das Ende eines lang gehegten Wunsches Netanjahus sein: die USA dazu zu bewegen, durch direkten militärischen Einsatz das iranische Atomprogramm zu zerstören.
Viel eher raten die USA Israel, den spektakulären Erfolg der israelischen Luftabwehr gegen
den iranischen Angriff als Sieg zu werten – und es dabei zu belassen. Ob Israels Führung für diese Interpretation der Ereignisse zu gewinnen ist, ist fraglich. Es könnte aber sein, dass Israel keine andere Wahl haben wird. Amos Harel gibt weiter zu bedenken, dass ein massiver israelischer Gegenschlag auf den Iran auch erwirken könnte, dass die Hisbollah im Südlibanon jede Zurückhaltung ablegt und massive Angriffe auf israelische Bevölkerungszentren durchführen könnte, gegen die eine vollständige Verteidigung wesentlich schwerer fallen dürfte.
Was der Angriff des Iran letztendlich für die Dynamik im Nahen Osten, und weit darüber hinaus, bedeuten wird, lässt sich momentan noch nicht einschätzen. Einerseits könnte der Iran gezeigt haben, dass Israels Spielraum und Handlungsfähigkeit an klare Grenzen stoßen.
Es ist jedoch auch möglich, dass das Regime in Teheran mit dem Brechen der bisherigen Spielregeln eine Kettenreaktion in Gang gesetzt hat, die sein über Jahrzehnte hinweg behutsam ausgebautes Gefüge an Macht und Einfluss in der Region zum Einsturz bringen könnte.
Für die USA ist Israels Abwehrleistung Erfolg genug