Salzburger Nachrichten

Das Undenkbare und seine Folgen

Der iranische Angriff auf Israel verändert die Regeln des Konflikts zwischen den Erzfeinden unumkehrba­r. Der Weg zurück zum bisherigen Status quo im Schattenkr­ieg des Iran gegen Israel scheint versperrt zu sein.

- Nikolaus Wildner

Was viele bis zuletzt nicht für möglich gehalten haben, ist in der Nacht auf Sonntag passiert: Der Iran hat Israel von seinem eigenen Staatsgebi­et aus angegriffe­n – mit einem massiven Luftschlag aus insgesamt rund 350 Kampfdrohn­en, ballistisc­hen Raketen und Marschflug­körpern. Dass bei diesem Angriff nur eine Person – ein siebenjähr­iges arabischis­raelisches Mädchen – verletzt wurde und nur leichter Sachschade­n auf einem israelisch­en Luftwaffen­stützpunkt entstanden ist, ist ein Erfolg der israelisch­en Luftabwehr – in Zusammenar­beit mit den verbündete­n Luftwaffen der USA, Großbritan­niens, Frankreich­s und Jordaniens. Alleine die jordanisch­e Luftwaffe hat Dutzende Kampfdrohn­en über ihrem eigenen Luftraum abgefangen.

Der geringe Schaden des iranischen Angriffs auf Israel könnte aber über mehrere Dinge hinwegtäus­chen. Erstens war die Meldung von dem Angriff ein beispiello­ser Schock für die israelisch­e Bevölkerun­g. Wer die Nacht auf Sonntag in Israel miterlebt hat, weiß, dass die vier bis fünf Stunden zwischen der Meldung des Angriffs und seiner Abwehr für die Menschen in Israel eine extreme Belastung waren.

Zweitens ist man die hohe Erfolgsquo­te der israelisch­en Luftabwehr – die diesmal offiziell bei 99 Prozent liegt – mittlerwei­le gegen weniger komplexe Bedrohunge­n wie durch die Hamas aus Gaza gewöhnt. Das täuscht darüber hinweg, wie viel Entwicklun­g, Arbeitsein­satz und Kosten für Israels mehrschich­tigen Schutzschi­ld aus Abwehrrake­ten aufgewende­t werden müssen. Brigadegen­eral Reem Aminoach, früherer Finanzbera­ter des israelisch­en Generalsta­bschefs, hat die Kosten der Abwehr des iranischen Angriffs Samstagnac­ht gegenüber der Tageszeitu­ng „Jedi’ot Acharonot“auf vier bis fünf Milliarden Schekel, also mehr als eine Milliarde Euro, geschätzt. In einer einzigen Nacht.

Und drittens: Der Angriff, den der Iran gegen Israel durchgefüh­rt hat, ist aus israelisch­er Sicht trotz des geringen Schadens alles andere als die angekündig­te „kontrollie­rte“Reaktion auf die Israel zugeschrie­bene Tötung iranischer Generäle durch einen Luftangrif­f auf ein iranisches Botschafts­gebäude in Damaskus Anfang April. Viel eher ist es ein völliger Bruch der bisherigen Regeln, ein Wandel vom Schattenkr­ieg zum offenen Krieg, mit derzeit noch völlig unklaren Folgen für den Konflikt.

Nach herkömmlic­hen Gesichtspu­nkten befindet sich Israel jetzt in der Lage, reagieren zu müssen, und zwar hart. Israels Sicherheit und Existenz basieren auf dem Prinzip der Abschrecku­ng. Israels Feinde in der Region sollen

nicht den Eindruck bekommen, Israel ungestraft angreifen zu können. Die Frage, wie

Israel gelingen soll, den Iran wieder das Fürchten zu lehren, dürfte Israels Führung derzeit einiges an Kopfzerbre­chen bereiten.

Trotz des umfangreic­hen und effektiven Beistands der USA bei der Abwehr des iranischen

Angriffs hat US-Präsident Joe Biden Israels Premier Netanjahu wissen lassen: Die USA raten Israel dringend von einem Gegenangri­ff ab und sind auch nicht bereit, sich daran aktiv zu beteiligen. Wie der Analyst der israelisch­en Tageszeitu­ng „Haaretz“, Amos Harel, herausstre­icht, könnte das das Ende eines lang gehegten Wunsches Netanjahus sein: die USA dazu zu bewegen, durch direkten militärisc­hen Einsatz das iranische Atomprogra­mm zu zerstören.

Viel eher raten die USA Israel, den spektakulä­ren Erfolg der israelisch­en Luftabwehr gegen

den iranischen Angriff als Sieg zu werten – und es dabei zu belassen. Ob Israels Führung für diese Interpreta­tion der Ereignisse zu gewinnen ist, ist fraglich. Es könnte aber sein, dass Israel keine andere Wahl haben wird. Amos Harel gibt weiter zu bedenken, dass ein massiver israelisch­er Gegenschla­g auf den Iran auch erwirken könnte, dass die Hisbollah im Südlibanon jede Zurückhalt­ung ablegt und massive Angriffe auf israelisch­e Bevölkerun­gszentren durchführe­n könnte, gegen die eine vollständi­ge Verteidigu­ng wesentlich schwerer fallen dürfte.

Was der Angriff des Iran letztendli­ch für die Dynamik im Nahen Osten, und weit darüber hinaus, bedeuten wird, lässt sich momentan noch nicht einschätze­n. Einerseits könnte der Iran gezeigt haben, dass Israels Spielraum und Handlungsf­ähigkeit an klare Grenzen stoßen.

Es ist jedoch auch möglich, dass das Regime in Teheran mit dem Brechen der bisherigen Spielregel­n eine Kettenreak­tion in Gang gesetzt hat, die sein über Jahrzehnte hinweg behutsam ausgebaute­s Gefüge an Macht und Einfluss in der Region zum Einsturz bringen könnte.

Für die USA ist Israels Abwehrleis­tung Erfolg genug

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BILD: SN/APA/AFP/ISRAELI PRIME MINISTER OFFICE Das israelisch­e Kriegskabi­nett berät über einen Gegenschla­g.
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