„Die Hälfte der Embryos hat eine Fehlentwicklung“
Markus Hengstschläger stellt sich der Frage, wie weit Embryonenforschung gehen darf. Und er zeigt auf, dass es durch neue Ansätze bald weniger Tierversuche geben könnte.
Der international bekannte Genetiker Markus Hengstschläger ist Professor an der MedUni Wien und leitet dort das Institut für Medizinische Genetik. Er hat bei einer jetzt im Journal „Developmental Cell“publizierten Studie anhand eines Modells aus Stammzellen die frühesten embryonalen Entwicklungsphasen des Menschen nachgestellt.
Durch das von Ihnen verwendete Modell wurde jene Membran genauer charakterisiert, die den Embryo in den ersten Lebenstagen umschließt. War diese Membran bisher unerforschtes Gebiet?
SN:
Markus Hengstschläger: Mein Forschungsteam untersucht die embryonale Entwicklung des Menschen – bis etwa zum neunten, zehnten Tag – an einem Modell. Da hat der Embryo eine Größe von ungefähr 0,015 Zentimetern und hat vielleicht 150 bis 300 Zellen. Über diese Phase weiß man beim Menschen aus vielen Gründen praktisch nichts. Ein Grund ist: Menschliche Embryonen darf man in Österreich wie auch in den meisten anderen Ländern nicht beforschen. Und wo es rechtlich erlaubt ist, ist es nur unter strengen Auflagen möglich. Ein weiterer Grund ist, dass man Rückschlüsse aus Tiermodellen wie etwa jenen der Maus, nicht wirklich ziehen kann, weil die Embryogenese bei der Maus anders abläuft. Daher gab es bisher keine Möglichkeit, diese Membran beim menschlichen Embryo detailliert zu erforschen. Jetzt haben wir an der MedUni Wien die Möglichkeit, wie wenige andere Labore weltweit auch, an aus Stammzellen entwickelten Embryomodellen – sogenannten Embryoiden – zu forschen.
SN: Wie läuft diese Forschung in der Praxis ab?
Man nimmt Stammzellen, die pluripotent sind (Zellen, die sich noch zu jedem Zelltyp eines Organismus differenzieren können, Anm.). Diese Zellen bieten viele Möglichkeiten: Die kann man im Labor durch bestimmte Kultivierungsbedingungen in einer gelähnlichen Lösung zu embryoähnlichen Strukturen, sogenannten Embryoiden, entwickeln. Dafür braucht es ein ganz genaues und auch aufwendiges Protokoll.
SN:
Woher bekommen Sie die dafür nötigen Stammzellen?
In Österreich darf man menschliche Embryonen nicht beforschen, keine rein für Forschungszwecke herstellen und auch keine im Zuge von künstlicher Befruchtung übrig gebliebenen Embryonen für Forschungszwecke verwenden. Pluripotente Stammzellen kann man einerseits aus anderen Ländern kaufen. Man kann sie aber auch aus anderen Zellen, etwa aus Hautzellen, herstellen. Dafür hat Shinya Yamanaka (japanischer Arzt und Forscher, Anm.) 2012 den Medizinnobelpreis gewonnen. Solche pluripotenten Stammzellen können in der Petrischale zu Embryoiden entwickelt werden. Aus dem von uns verwendeten Embryomodell kann sich kein Mensch entwickeln. Das ist biologisch nicht möglich. Daher ist diese Forschung auch ethisch vertretbar und rechtlich erlaubt.
Weiters hat Ihr Team aus den Tausenden Genen des Menschen Oct4 als eines identifiziert, das für die Entstehung und Entwicklung dieser Basalmembran verantwortlich ist. Was nutzt uns dieses Wissen?
SN:
Wenn sich ein Embryo entwickelt, kommt es bei mehr als 50 Prozent zu Fehlentwicklungen, wodurch sich der Embryo nicht in die Gebärmutter einnisten kann oder es zu einer Fehlgeburt kommt. Dafür können mütterliche Faktoren verantwortlich sein wie etwa immunologische Aspekte, Gerinnungsstörungen etc. Oder der Embryo kann etwa bestimmte genetische Defekte haben. Weitere Faktoren könnten aber vielleicht auch sein, dass der Embryo nicht richtig strukturiert ist und beispielsweise sein Wachstum gestört ist. Wir haben nun beschrieben, wie sich rund um den Embryo in seinen ersten Tagen diese Basalmembran entwickelt. Die ist verantwortlich dafür, dass die Zellen beim Embryo an der richtigen Stelle sind, dass er richtig wachsen kann – und dass er seine Gestalt bekommt. Diese Membran umhüllt und schützt ihn. Ohne diese Membran ist der Embryo auch gar nicht lebensfähig. Wir haben zusätzlich herausgefunden, dass das Gen Oct4 die Entstehung dieser Membran reguliert.
SN:
Wir verstehen jetzt grundlagenwissenschaftlich,
Was bringt das?
wie diese Membran aufgebaut ist und welche Rolle dabei dieses Gen spielt. Fehlentwicklungen dieser Basalmembran könnten, neben anderen Faktoren, dafür verantwortlich sein, dass keine Schwangerschaft entsteht oder es zur Fehlgeburt kommt. Weiters haben viele Erkrankungen des Menschen ihren Ursprung in der frühen Embryonalentwicklung. Ein zukünftiges Ziel unserer Forschungen ist es, auch darüber mehr zu lernen.
Sollte man, um diese Forschung zu erleichtern, die Regeln für die Embryonenforschung in Österreich lockern?
SN:
Wir können mittels dieser aus Stammzellen hergestellten Embryomodelle unsere Forschung in Österreich sehr gut betreiben. Sie sind so gut, dass sie uns erlauben, diese frühen Entwicklungsstadien sehr detailliert zu erforschen. Und ein weiterer Punkt ist mir wichtig, nämlich die Frage: Wie können bestimmte Medikamente, wenn sie eine Schwangere einnimmt, den Embryo schädigen? Solche Embryoide sind auch gut dafür einsetzbar, die Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten zu testen und dadurch etwa auch die Zahl an Tierversuchen zu reduzieren. Das ist ein weiterer ethischer Aspekt, der für die Anwendung solcher Modelle spricht.
SN: Kommt man durch diese Art von Forschung auch dem Ziel mancher näher, im Labor ein sogenanntes Designerbaby mit gewünschten Eigenschaften schaffen zu können?
Nein. Da besteht überhaupt kein Zusammenhang zu unserer Forschung. Ein Designerbaby, so wie man sich das vielleicht vorstellt, kann man nicht herstellen. Und genetische Eingriffe an einem Embryo, also die sogenannte Keimbahntherapie, sind in Österreich verboten. Ein Eingriff in die Keimbahn würde den Menschen in seiner Gesamtheit verändern und würde sich auch auf die nächsten Generationen vererben. Da aktuell die Folgen nicht wirklich abschätzbar sind, bin ich auch gegen die Anwendung von Keimbahntherapie.
SN: Kürzlich haben es Forscher aus London geschafft, fötale Organoide aus Fruchtwasser
herzustellen, die vergleichbare Funktionen wie die Organe ungeborener Kinder zeigten. Was kann man damit erforschen?
Im Fruchtwasser gibt es grundsätzlich verschiedene Typen von Zellen: Ein Typ sind die Fruchtwasserstammzellen. Sie wurden 2003 von meiner Forschungsgruppe entdeckt. Dann gibt es dort auch andere Zellen des Kindes, die zum Beispiel ausgeschieden wurden. Das sind Zellen verschiedener Herkunft, etwa aus dem Urogenitalsystem oder von der Haut. Laut dieser Publikation haben die Kollegen aus diesen ausgeschiedenen Zellen des Fetus Organoide hergestellt. Das sind sozusagen Miniorgane, also organähnliche Strukturen. Organoide sind wichtige Modelle, um die Entwicklung und Funktion von Organen zu studieren. So gibt es zum Beispiel Organoide für das Gehirn, die Leber oder das Herz. Solche Organoide können aus verschiedenen Zellen verschiedenen Ursprungs hergestellt werden – und wie in dieser Publikation gezeigt, können bestimmte Organoide auch aus Zellen aus dem Fruchtwasser hergestellt werden.
SN: Ist durch die Herstellung dieser Organoide aus Fruchtwasserzellen möglicherweise bald die Forschung an Embryonen obsolet – oder kann die Zahl der Tierversuche reduziert werden?
Ganz allgemein gesagt: Die Forschung an Organoiden bietet die Möglichkeit, Tierversuche zu reduzieren. Und die von uns verwendeten Embryoide sind wirklich sehr gute Modelle, um die Entstehung menschlichen Lebens zu studieren. Für die Beantwortung unserer Fragestellungen muss man also nicht an Embryonen forschen.
SN: Könnte man aus solchen Organoiden irgendwann funktionsfähige Spenderorgane für Transplantationen züchten?
Organoide sind sehr kleine Modellstrukturen. Sie werden entwickelt, um die Funktion von Organen zu verstehen und auch die Entstehung von Erkrankungen zu erforschen. Solche Organoide werden nicht entwickelt, um Organe für Transplantationen herzustellen. Organoide dienen aktuell vielmehr der Grundlagenforschung.