Mit Musik dem Chaos der Welt begegnen
Musikwissenschafter Laurenz Lütteken hat „Die Zauberflöte“neu entschlüsselt. Warum die populäre Oper ein Kind ihrer Zeit ist und was Mozart zum Grenzüberschreiter werden ließ.
Mozarts „Zauberflöte“gilt als großes Rätselwerk. Der renommierte deutsche Musikwissenschafter Laurenz Lütteken blickt im Buch „Die Zauberflöte – Mozart und der Abschied von der Aufklärung“(C. H. Beck) in die Entstehungszeit der 1791 im Wiener Freihaustheater uraufgeführten Oper und gewinnt daraus ein radikal neues Verständnis. Die Oper sei, sagt und schreibt Lütteken, eine Reaktion auf die bestürzende Einsicht, dass die Vielgestaltigkeit der Welt sich nicht mehr durch Vernunft ordnen lasse. Seine Thesen hat der 59-Jährige kürzlich im Rahmen des Mozart:Forums, einer seit 2021 existierenden Einrichtung der Universität Mozarteum, exklusiv präsentiert.
SN: Herr Lütteken, wie erklären Sie sich die ungebrochene Popularität der „Zauberflöte“?
Laurenz Lütteken: Vielleicht ist es die für Mozart einzigartige Verbindung von anspruchsvollster Musik und einer märchenhaften Handlung. Sie eröffnet offenbar der Fantasie des Einzelnen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Mozart war übrigens sehr stolz auf den sofort einsetzenden ungeheuren Erfolg der Oper. Ob er aber deswegen ein Anwalt bedingungsloser Popularität war, das lässt sich mit guten Gründen bezweifeln.
SN: Die Einleitung Ihres Buches ist mit „Noch ein Zauberflöten-Buch?“übertitelt. Was hat Sie zu neuen Forschungen motiviert?
Das Mozart-Bild hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert. Viel stärker ist seine Verwurzelung im 18. Jahrhundert in den Vordergrund getreten, seine Prägung durch die Diskussionen des Aufklärungszeitalters. Es war vielleicht an der Zeit, den Blick auch im Falle der „Zauberflöte“in dieses Jahrhundert zu richten. Damit lassen sich die vielen Themen, vielleicht auch die Widersprüche des Werkes besser verstehen.
Bislang ranken sich unzählige Deutungen um das Werk. Die Rede ist von einem „szenischen Illuminaten-Oratorium“bis hin zu einem „Triumph für Queerness, Travestie“. Sie versuchen das Werk aus der Zeit zu verstehen und sprechen vom „Scheitern einer Epoche“, nämlich der Aufklärung. Warum?
SN:
Die Vorstellung, die Oper sei ein Rätsel, das man nur entschlüsseln müsse, begann schon unmittelbar nach der Uraufführung. Das Schöne an all diesen Versuchen ist, dass sie sich gegenseitig, wie Illuminaten und Queerness, rigoros ausschließen. Wenn das so ist, dann hilft vielleicht der Blick zurück ins 18. Jahrhundert. Tatsächlich begegnen sich alle großen Themen dieses Jahrhunderts in der Oper, von der Freiheit über den Suizid bis zur Herrschaft. Jedoch „ordnen“sie sich nicht mehr, sie verschwimmen auf eigenartige Weise. Der für das Jahrhundert so zentrale Glaube an die Vernunft funktioniert nicht mehr – und ich glaube, dieser Verlust ist Gegenstand der Oper.
SN: Wie passt Mozarts Musik mit Emanuel Schikaneders Textebene zusammen, die oftmals als wirr, ja als „Zumutung“verstanden wird?
Ich bin fest davon überzeugt, dass kein Detail des Textes ohne Mozarts Zustimmung entstanden ist. Das „Wirre“ist also hochgradig beabsichtigt. Damit gewinnt aber die Musik einen anderen Stellenwert:
Sie ist, vom ersten Takt an, feierlich und ernst, selbst in den komischen Kontrasten – immerhin will Papageno sich umbringen. Die Oper ist also ein Spiegel einer undurchdringlich, einer zur wirren Zumutung gewordenen Welt, der man nur noch gegenübersitzt. Wenn das so ist, dann erweist sich Musik als einzige Möglichkeit, an dieser Welt überhaupt teilzuhaben.
Mozart war in seinem letzten Lebensjahr ungemein produktiv. War es ein Akt der Verzweiflung oder wollte der Künstler bewusst alle Grenzen ausloten?
SN:
Ja, die Produktivität ist sehr beunruhigend und in der schieren Quantität einschüchternd. Entgegen einer immer noch weit verbreiteten Auffassung war sie aber nicht der Not geschuldet. Mozart war in beispielloser Weise erfolgreich und sein Selbstbewusstsein war entsprechend ausgeprägt – mit direkten Folgen für alle Beteiligten. Spätestens mit der Übersiedlung nach
Wien wird das Motiv der Grenzüberschreitung immer ausgeprägter, und dies spitzt sich 1790/91 nochmals zu. Es ist nach wie vor eine Herausforderung, sich auf die Dimension dieses Prozesses auch nur ansatzweise einzulassen.
SN: „Die Zauberflöte“gilt für manche als Symbol für ein „Maschinentheater“. Warum melden Sie da Zweifel an?
Die Legenden von „Vorstadtbühne“und „Wiener Maschinentheater“sind nicht stichhaltig. Schikaneders Freihaustheater war ein hochprofessioneller Betrieb, die Preise für die Karten entsprachen denen des Kärntnertortheaters und lagen nur geringfügig unter denen des Hoftheaters. Die „Zauberflöte“war eine kostspielige Produktion, an der Mozart wahrscheinlich viel Geld verdient hat – es spricht manches dafür, dass es sein lukrativster Auftrag überhaupt war. In der Oper kommen zudem fast gar keine Maschinen zum Einsatz, sondern vor allem optische Effekte allermodernster und teuerster Art. Schikaneder verwahrte sich übrigens dagegen, den Papageno in die Tradition des Wiener Hanswursts zu stellen.
SN: In der Oper gibt es immer wieder Unschärfen – zwischen Mensch und Tier, Prinz und Mensch, Genius und Kind, Mann und Frau. Was steckt da dahinter?
Wenn die Welt ungenau, schimmernd wird, dann verschwimmen auch ihre rationalen Grenzen. Eigentlich sollen diese die Welt ordnen, doch die Oper handelt davon, dass diese Kräfte ihre Geltungsmacht eingebüßt haben.
„Alle großen Themen der Zeit zu finden.“
SN: Ist das Werk allgemein als Hommage an die Zauberkraft der Musik, der Tonkunst zu interpretieren? Ging es Mozart um „Kunstwahres“?
„Kunstwahres“klingt viel zu sehr nach Idealismus und Romantik. Ich würde es andersherum sagen: Die „Zauberkraft“der Musik dient nicht einem vermeintlich Absoluten, sie ist vielmehr, etwas plakativ gesprochen, das einzige Mittel, einer chaotisch erscheinenden Welt noch zu begegnen. Es gibt viele Indizien dafür, dass Mozart das Selbstbewusstsein besaß, sich, seiner Musik und seiner „Zauberflöte“dies zuzutrauen.