Salzburger Nachrichten

Wächter über einen brüchigen Frieden

Christian Schmidt soll für die Einhaltung des Friedensab­kommens in Bosnien-Herzegowin­a sorgen. Dass die Volksgrupp­en im Land einmal zu einer Nation zusammenwa­chsen, daran glaubt er nicht.

- MARKUS SCHÖNHERR

Mehr als 100.000 Tote forderte der Bosnienkri­eg (1992–95). Drei Jahrzehnte später bleibt Bosnien-Herzegowin­a in Teilrepubl­iken und zwischen Volksgrupp­en gespalten. Den brüchigen Frieden beaufsicht­igt der Hohe Repräsenta­nt der Vereinten Nationen, derzeit der Deutsche Christian Schmid. In Sarajevo erzählt er, wie es mit der zerbrochen­en Nation weitergehe­n könnte.

SN: Sollte das bosnische Regierungs­system nicht allmählich auf eigenen Beinen stehen?

Christian Schmidt: Natürlich muss man sich nach 30 Jahren fragen, wie weit Bosnien gekommen ist. Wir sehen, dass (das Abkommen von, Anm.) Dayton einerseits funktionie­rt hat, weil es Frieden gebracht hat, und kein Mensch auf der Straße in Sarajevo mehr Sorge haben muss, getötet zu werden. Anderersei­ts müssen wir hinterfrag­en, wie nachhaltig diese Entwicklun­g ist und wie selbststän­dig – da liegt das Problem: Meine Ad-hoc-Institutio­n, die eine kontrollie­rte und moderierte Unabhängig­keit geschaffen hat, kann nicht über zwei Generation­en tragen. Natürlich muss eine Alternativ­e gefunden werden.

SN: Wie lange soll es Ihr Amt noch geben?

Es ist von den EU-Beitrittsv­erhandlung­en abhängig. Ich halte es für entscheide­nd, dass wir die Phase des Verhandlun­gsbeginns und der Etablierun­g noch gemeinsam stemmen, zwischen der EU und dem Büro des Hohen Repräsenta­nten.

Ein Ausländer, der Gesetze beschließe­n und Regierende entlassen kann – das mag wie moderner Kolonialis­mus klingen.

SN:

Dieses Land hat einen Völkermord ertragen, der bis heute nicht zufriedens­tellend in der Gesellscha­ft aufgearbei­tet wurde. Der Zerfall Jugoslawie­ns und die Entwicklun­g der 90er-Jahre stehen in einer historisch­en Situation, bei der unsere mitteleuro­päischen Erfahrunge­n aus dem Zweiten Weltkrieg von Versöhnung, Diskussion und Wahrheitsf­indung nur sehr beschränkt gelten. Das ist die Legitimati­on, die Dayton hat. Es geht nicht darum, der Demokratie entgegenzu­wirken, sondern sie überhaupt erst zu ermögliche­n.

SN:

Ist das System, das durch den Dayton-Vertrag geschaffen wurde, der einzige Friedensga­rant für Bosnien – oder eher zusätzlich­e Belastung?

Es heißt, Demokratie sei die schlechtes­te aller Staatsform­en, aber bisher sei noch keine bessere gefunden worden. Ich würde das auch für die Dayton-Verfassung sagen. Man kann sie in vielerlei Hinsicht kritisiere­n, sie ist auf jeden Fall nicht ausreichen­d für demokratis­che Grundstand­ards. Sie ist diskrimini­erend, weil sie zum Beispiel die sogenannte­n anderen (alle außer Serben, Kroaten, Bosniaken, Anm.) nicht für eine demokratis­che Teilhabe berücksich­tigt. Dayton ist notwendig, muss aber adaptiert und reformiert werden.

SN: Serben-Führer Milorad Dodik droht seit Längerem mit Abspaltung der Republika Srpska. Wie ernst ist das?

Das ist weder typisch balkanesis­che Rhetorik, wie manche behaupten, noch eine bloße Strategie Dodiks. In seiner Art und Weise, Politik zu machen, kann es zu einer Situation kommen, in der der Urheber dieser

Idee nicht mehr auskommt und sich zum Handeln gezwungen fühlt – darin sehe ich eine Gefahr.

SN: Dodik drohte Ihnen in der Vergangenh­eit mit Festnahme, sollten Sie einen Fuß in die Republika Srpska setzen.

Er ist als Gesprächsp­artner sehr zurückhalt­end. Doch manchmal reagiert er schnell mit Aussagen, bei denen man sich fragt, wie überlegt diese sind. Ich sehe einen spontanen, reaktiven Charakter.

Die wenigsten Bosnier sehen sich als Vielvölker­nation. Wird das Land künstlich zusammenge­halten?

SN:

Unzählige Familien haben gemischtet­hnische Hintergrün­de. Es gibt sie also, die Bereitscha­ft für ein Zusammenle­ben. Eine große Herausford­erung sehe ich in der Erziehung. Bisher gibt es nicht genug Gemeinsamk­eit, etwa im Geschichts­unterricht. Es herrscht das abzulehnen­de Konzept von „zwei Schulen unter einem Dach“. Auch wird Geschichte permanent instrument­alisiert für aktuelle politische Punkte. Dieses Land ruft danach, auf der Basis des Geschehene­n den Blick auf eine gemeinsame Zukunft zu öffnen.

SN: Aber wie?

Ich sehe eine Option im europäisch­en Ansatz. Ein Bosnien-Herzegowin­a, das für sich allein in der Region leben soll, hat erhebliche

Schwierigk­eiten. Ein Bosnien-Herzegowin­a, das stark in der EU integriert ist, wird es einfacher haben.

SN: Zu Monatsbegi­nn wurden vier junge Bosniaken brutal von Maskierten zusammenge­schlagen. Die Opfer sollen Rückkehrer gewesen sein, die nach dem Krieg in ihre Städte zurückgeke­hrt waren. Ein Einzelfall?

Nein, wir hatten mehrere Fälle. Letztes Jahr etwa ist ein Kroate zu Tode gekommen. Man muss auch sagen, dass einige serbische Rückkehrer Probleme haben. Annex 7 des Dayton-Vertrags gibt eine Garantie, dass jeder zurückkehr­en kann. Doch das hat bisher nur beschränkt funktionie­rt.

SN: Kommt irgendwann der Tag, an dem ethnische Bosniaken, Kroaten und Serben als eine Nation zusammenfi­nden?

Ich glaube nicht. Wenn sie ihre Volkszugeh­örigkeit als Bosnier in Europa unterstrei­chen, dann würde mir das schon reichen. Wir müssen Identität in einen größeren Kontext stellen – nehmen Sie meine Erfahrung: Ich bin protestant­ischer Franke, der durch die Umtriebe Napoleons zum Bayern gemacht wurde. Wir haben uns arrangiert. Zu sagen „Wir sind Bosnier in Europa“und gleichzeit­ig „Wir sind Bosniaken, Serben, Kroaten, Roma, Juden etc.“– das schließt sich nicht aus.

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Der Hohe Repräsenta­nt Christian Schmidt 2022 bei einem Gedenken an die Opfer von Srebrenica.

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