Polen ist wieder ganz zurück in der EU
Angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sind die Polen zu einem Sicherheitsgaranten geworden. Die Zeitenwende rückt die Osterweiterung der EU genau 20 Jahre danach in ein völlig neues Licht.
Die Feiern haben schon am Wochenende begonnen. In Zittau im Dreiländereck Polen, Tschechien und Deutschland haben 8000 Besucher bei Musik, Spielen und Reden der EU-Osterweiterung am 1. Mai vor 20 Jahren gedacht. Dieser neue Zusammenhalt über die einstigen Grenzen hinweg ist in Zeiten des russischen Angriffskriegs auf Polens östlichen Nachbarn Ukraine besonders wichtig.
Doch dies soll nicht vom Feiern ablenken, denn zu feiern gibt es gerade in Polen einiges. Unglaublich viel hat sich dort in den vergangenen 20 Jahren bei der Infrastruktur verändert.
Eine Autofahrt vom Wirtschaftsforum im Kurort Krynica-Zdrój an der Grenze zur Slowakei im Herbst 2004 zurück in die Hauptstadt Warschau soll als Beispiel herhalten: Die Fahrt führte elf Stunden lang über Landstraßen durch unzählige Dörfer. Auch wenn es kaum noch Pferdekutschen gab, musste man doch auf Katzen und Gänse auf der Fahrbahn achten. Heute dauert die Fahrt über die gut ausgebaute E77 halb so lang und ist mindestens doppelt so sicher.
Am eindrücklichsten ist bestimmt Polens Wirtschaftsleistung. Georgiens Ex-Präsident Michail Saakaschwili erinnerte sich im persönlichen Gespräch gern daran, wie er als Student 1991 in seinem Rucksack Dosenfleisch nach Polen brachte.
Der Georgier studierte in Kiew. Polens Wirtschaftsleistung lag damals nur knapp über dem Niveau der Ukraine. 20 Jahre später ist Polen
zu einem Wirtschaftsmotor der EU geworden und ist zum Beispiel Deutschlands fünftwichtigster Wirtschaftspartner gleich nach China und vor Italien.
Auch wenn man langsamer vorankommt als beim EU-Beitritt 2004 erhofft, geht doch auch Polen immer mehr Richtung erneuerbare Energieträger (2023: 37 Prozent). Braun- und Steinkohle sind auf dem Rückzug, der Anteil der Windenergie hat sich seit 2010 mehr als vervierfacht, noch besser steht es bei der Solarenergie (2022: 5,8 Prozent). Die von der rechtspopulistischen Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ausgegrabenen Atomenergiepläne werden von der Mitte-links-Koalition unter Donald Tusk beibehalten.
Zur großen Erfolgsgeschichte hat sich das Sorgenkind bei den EUBeitrittsverhandlungen, die polnische Landwirtschaft, entwickelt. Milch, Gemüse, Beeren und auch Honig sind beliebte Exportprodukte. Viele polnische Bauernhöfe strotzen von teuren Landwirtschaftsmaschinen, der so sehr befürchtete Aufkauf landwirtschaftlicher Flächen durch ausländische Investoren hielt sich in engen Grenzen. Derzeit treibt die polnischen Bauern vor allem die Angst vor einer Überschwemmung mit billigerem ukrainischen Getreide und Mais um.
Seit Monaten werden immer wieder Grenzübergänge blockiert. De facto prorussische Parteien wie die rechtsextreme Konföderation, neuerdings Koalitionspartner von Jarosław Kaczyńskis PiS auf lokaler Ebene, unterstützen die wütenden
Landwirte. Diese Proteste sind ein Vorgeschmack auf die nächste EUOsterweiterungsrunde um die Republik Moldau und die Ukraine.
Polen würde damit voraussichtlich auch zum EU-Nettozahler. Politisch von allen Parteien außer der Konföderation unterstützt, würde ein EU-Beitritt der Ukraine Polens Position noch einmal radikal verändern. Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist Polen nicht nur ideell, politisch und wirtschaftlich zur Brücke nach Osten geworden. Über den Flughafen von Rzeszów werden auch für Nato und EU Waffen in die Ukraine geliefert. Die Rolle Polens in den Beziehungen mit der EU und auch seine transatlantische Bedeutung haben damit enorm zugenommen.
Mit der erklärten Rückkehr Warschaus als neuerdings wieder konstruktives EU-Mitglied nach dem Regierungswechsel kurz vor dem Jahreswechsel nimmt Polens Einfluss weiter zu. Experten gehen davon aus, dass sich auch das Zentrum der EU von der Linie Paris–Berlin Richtung Osten verlagern wird. Angesehene Außenminister mit einer Vision wie Radosław Sikorski werden darauf drängen. Die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks ist für Warschau nur ein erster Schritt. Dass auf diesem Wege die Garantie von Rechtsstaat und Minderheitenrechten nach acht Jahren EU-kritischer PiSHerrschaft nicht schadet, versteht sich von selbst.
Doch wie kritisch man die beiden Kaczyński-Regierungen von 2005 bis 2007 und 2015 bis 2023 auch sehen mag, eines muss man PiS lassen: Die Partei hat mit ihrer Ja-Empfehlung beim EU-Beitrittsreferendum von 2003 wesentlich zu dem damals sehr guten Ergebnis von 77 Prozent für den EU-Beitritt beigetragen.
Seitdem ist die Unterstützung der EU-Mitgliedschaft in der polnischen Bevölkerung nie mehr unter 80 Prozent gefallen. Daran tut übrigens auch keinen Abbruch, dass just zum 20-Jahr-Beitrittsjubiläum nur 27 Prozent der Polen sich den Euro statt der Landeswährung Złoty wünschen.
Landwirtschaft ist das große Sorgenkind
EU-Zentrum verlagert sich Richtung Osten