Zwischen zwei Welten ohne Heimat
Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah blickt im Roman „Das versteinerte Herz“auf die Verheerungen in Ostafrikas Zeitgeschichte.
Vor drei Jahren war Abdulrazak Gurnah in der literarischen Welt noch so gut wie unbekannt. Die schwedische Akademie in Stockholm wusste allerdings genau, warum sie 2021 just diesem unentdeckten Autor aus Ostafrika den Literaturnobelpreis verlieh. Denn in seinen Romanen umkreist der emeritierte Professor für Englische und Postkoloniale Literatur an der University of Kent in immer neuen Varianten seine beiden zentralen Lebensthemen: den Kolonialismus am Beispiel des Inselstaats Sansibar, wo Gurnah 1948 zur Welt kam; und die Welterfahrung des Migranten – sein Leben der Entfremdung, des Identitätsverlusts und der doppelten Entwurzelung im Pendeln zwischen zweierlei Fremde und im steten Gefühl, unzugehörig und unerwünscht zu sein, hier wie dort.
Das Besondere: Gurnah erzählt die Kolonialgeschichte strikt aus dem Blickwinkel der unterworfenen Afrikaner. Und er verleiht dieser bisher literarisch weitgehend stummen Weltregion an der ostafrikanischen Küste des Indischen Ozeans eine ganz eigentümliche Stimme, leise, aber unbeirrbar in ihrer stillen Widersetzlichkeit und beharrlichen Kritik auch an allen neuen Kolonialismen, von denen seine Insel heimgesucht wird.
Abdulrazak Gurnahs Erzählkosmos ist durchdrungen von der ethnischen und kulturellen Vielfalt dieser geschäftigen Küstengegend, einer machtlosen Region ohne Kontrolle über ihr eigenes Schicksal. Portugiesen, arabische Eroberer aus dem Golf, Deutsche und Briten haben hier ihre kolonialen Herrschaftsspuren hinterlassen, außerdem haben Inder, Perser, Khmer und Afrikaner von sonst woher,
Handelsvölker allesamt, der Region ihren Stempel aufgedrückt.
Inzwischen sind fünf der zehn Romane Gurnahs eilends neu ins Deutsche übersetzt worden, „Das versteinerte Herz“ist soeben auf den Markt gekommen. Diesmal geht es dem Autor nicht wie in den früheren Romanen um das Leben der Ostafrikaner unter den diversen Kolonialherren der Vergangenheit; diesmal richtet er sein Augenmerk auf die postkoloniale Zeitgeschichte – auf das Ende des britischen Protektorats in Ostafrika und auf dessen Folge, die blutige Revolution in Sansibar 1964 mit ihren politischen, ethnischen und sozialen Umbrüchen und Säuberungen, die mit heilloser Korruption des öffentlichen und des privaten Lebens einhergingen.
Die Briten sind fort, doch neue Einflussfiguren tauchen auf und lenken die zur Macht gelangten Revolutionäre ins sozialistische Lager. Die Berater kommen aus der DDR und der Tschechoslowakei und erklären sich als zuständig für die Bildungspolitik, „während die Chinesen die Krankenhäuser übernehmen und die Sowjets die Regierung in Sicherheits- und Militärfragen beraten“. Der Kolonialismus ist trotz der formellen Unabhängigkeit des Landes nicht vorbei, er ist nur in eine andere Form mutiert – auch in kulturelle Kolonisierung, etwa durch den Tourismus.
Abdulrazak Gurnah erzählt diese gewaltsamen gesellschaftlichen Umwälzungen in Form einer Familiengeschichte. Sein Ich-Erzähler ist ein junger Mann namens Salim. Als Siebenjähriger muss er 1970
erleben, dass sein Vater, ein Beamter der Wasserbehörde in Sansibar, plötzlich seinen Job aufgibt und wortlos die Familie verlässt, um in einem anderen Teil der Stadt ein ärmliches Eremitendasein zu fristen. Der Bub spürt nur, dass seine Familie von außen zerstört wurde und sein Vater – ein Verlierer? Ein Verstoßener? Ein Gescheiterter? – sich nicht gewehrt hat. Was genau passiert ist, was die Gründe für diesen rätselhaften Bruch des Familienlebens sind, wird dem Buben nicht erklärt. In dieser Familie herrscht Sprachlosigkeit.
Bald wird Salims Mutter die Mätresse und Nebenfrau eines mächtigen Ministers des neuen Revolutionsregimes in Sansibar und bekommt ein Kind von ihm, und ihr jüngerer Bruder Amir entwickelt sich zur schillerndsten Figur des Romans. Er spielt eine fragwürdige Schlüsselrolle im Leben seines Neffen Salim, undurchsichtig von Anfang an, doch letztlich unheilvoll, wie erst am Romanende vollends deutlich wird.
Unter dem neuen Regime macht Onkel Amir eine steile Karriere als Diplomat. Er holt den Neffen zum Studium nach London, was Salim als Lebenschance und zugleich als gewaltsamen Übergriff empfindet. Er entzieht sich der Bevormundung durch seinen Onkel, verzichtet auf dessen Unterstützung und studiert statt des verhassten Business Management lieber Englische Literatur.
Dabei ist ihm schon klar, wie er und seinesgleichen zu ihrem Wissen über die Welt gekommen sind und welches Weltbild ihnen durch diese Literatur vermittelt wird, „durch Bücher von Leuten, die uns verachten“. Erst Jahrzehnte später, im letzten Teil des Romans, erfährt Salim von seinem sterbenden Vater die wahren Zusammenhänge. Gurnah paraphrasiert hier den Plot einer Tragikomödie von Shakespeare, „Maß für Maß“. Da merkt man den hochbelesenen Literaturprofessor in all seiner Ambivalenz – er liebt einfach die Literatur der ungeliebten Briten.
Im Hauptteil des Romans erzählt Gurnah die postkoloniale Entfremdungsgeschichte Salims, der zwischen dem nachrevolutionären Sansibar und dem kalten und unfreundlichen England pendelt und sich überall als unwillkommen empfindet. In Sansibar fühlt er sich als unerwünschter Abfall der gescheiterten Ehe seiner Eltern; und in England fühlt er sich als missachteter migrantischer Student aus einer randständigen Ex-Kolonie. Unglücklich, zerrissen und unbeheimatet ist er in beiden Sphären.
Und Salim erkennt in seinem eigenen Verhalten ein fatales familiäres Muster – den Willen zur Ohnmacht. Er reagiert wie sein Vater und schon sein Großvater vor ihm. Alle drei fühlen sich machtlos gegenüber der Gewalt, die ihnen angetan wird. Die Männer dieser
Familie sind allesamt passive Antihelden – stille, ohnmächtige Gegner der jeweiligen Machthaber, mit denen sie sich gleichwohl arrangieren müssen, wenn sie überleben wollen. Sie erleben, dass ihre Traditionen nicht standhalten, ihre Regeln nicht mehr gelten und die Familie zerbricht. Ihre Identitätsgewissheit zerfällt, Selbstentfremdung ist ihr existenzielles Grundgefühl. Sie verhärten sich, versteinern innerlich in einem Zustand zwischen tot und lebendig. Darauf spielt das Shakespeare-Zitat im Titel an: „Ganz unbereit zum Leben wie zum Tod. O steinern Herz!“
„Das versteinerte Herz“ist ein bitterer Roman, zutiefst melancholisch in seinem mitfühlenden, aber kompromisslosen Blick auf die Verheerungen, die die neuen Kolonialismen in den Romanhelden wie in den entkolonisierten Gesellschaften anrichten. Auf die Chancen der postkolonialen Welt, diesen neuen Machtverhältnissen zu entkommen, blickt Abdulrazak Gurnah mit abgründigem Pessimismus.
Ohnmächtig gegenüber Gewalt von Mächtigen