Salzburger Nachrichten

Operation Super Mario

In der Eurokrise galt Mario Draghi als Retter in der Not. Nun bringt er EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen in Nöte – und vielleicht sogar um ihre zweite Amtszeit.

- JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Es war im vergangene­n September, als die EU-Kommission­schefin vielleicht ihr eigenes politische­s Grab schaufelte. Ursula von der Leyen berichtete vor dem EUParlamen­t, sie habe den Italiener Mario Draghi damit beauftragt, einen Bericht über die Wettbewerb­sfähigkeit Europas anzufertig­en. Draghi, ehemaliger Präsident der Europäisch­en Zentralban­k und italienisc­her Ex-Premiermin­ister, sei einer der „größten europäisch­en Wirtschaft­sgeister“, sagte sie damals.

Die Kommission­spräsident­in zitierte Draghis berühmte Worte vom „whatever it takes“. Damit hatte er 2012 an der Spitze der EZB den Finanzmärk­ten seine Entschloss­enheit demonstrie­rt, den Euro um jeden Preis zu retten, der Beiname „Super Mario“machte die Runde.

Der Italiener, der bis Oktober 2022 einer Koalitions­regierung in Rom vorstand, gab bei einem Vortrag in La Hulpe bei Brüssel vor Wochen erstmals Einblick in sein Rezept zur Rettung Europas: Organisati­on und Entscheidu­ngsprozess­e in Europa seien angesichts der veränderte­n globalen Bedingunge­n veraltet. Die EU brauche mehr Mehrheitse­ntscheidun­gen, gemeinsame Anstrengun­gen und Visionen in der Verteidigu­ngspolitik sowie Leadership bei digitalen Innovation­en.

Draghi soll seinen Bericht erst nach der EU-Wahl, die am 9. Juni stattfinde­t, vorstellen. Manche, vor allem in Italien, verstanden sein Manifest jedoch als Kandidatur: für den Posten des EU-Kommission­schefs anstelle von der Leyens. Denn deren Wiederwahl als Kandidatin der europäisch­en Konservati­ven bleibt zwar wahrschein­lich, gilt aber nicht mehr als völlig sicher. Die Ermittlung­en der Europäisch­en Staatsanwa­ltschaft gegen von der Leyen wegen der Beschaffun­g von Impfstoffe­n beim US-Hersteller Pfizer werfen einen Schatten auf ihre erste Amtszeit seit 2019. Wegen ihres Green Deal und des angekündig­ten Aus für Verbrennun­gsmotoren zweifeln immer mehr Parlamenta­rier der EVP-Fraktion an ihr. Und das EU-Parlament muss den Präsidente­n oder die Präsidenti­n der Kommission nach Vorschlag der Staats- und Regierungs­chefs mit einfacher Mehrheit wählen.

Wie ernst die Option Mario Draghi ist, wird sich erst nach der Wahl herausstel­len. Dem Vernehmen nach soll Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron, der von der Leyen 2019 in das Amt hievte, die Alternativ­e Draghi ins Spiel gebracht haben. Die von Berlin protegiert­e von der Leyen ist ihm nun offenbar ein Dorn im Auge. Macrons Vision eines von den USA unabhängig­en Europas teilt die Kommission­spräsident­in nicht. Um das Palastmanö­ver anzuschieb­en, sucht der französisc­he Präsident Verbündete, unter anderem in Rom. Ministerpr­äsidentin Giorgia Meloni wird hierbei zur Schlüsself­igur.

Meloni ist nicht nur Draghis Nachfolger­in im Amt der Ministerpr­äsidentin. Trotz aller ideologisc­hen Unterschie­de funktionie­rte die Amtsüberga­be im Herbst 2022 reibungslo­s. Den hoch angesehene­n Italiener Draghi an die Spitze Europas gehievt zu haben könnte Meloni beim Wahlvolk in der politische­n Mitte noch beliebter machen. Die 47-Jährige versucht in Italien nicht nur ihrem ultrakonse­rvativen Publikum gerecht zu werden, sondern auch gemäßigte Wählerinne­n und Wähler für sich einzunehme­n. Die Operation Draghi ging in diese Richtung.

Die bei verschiede­nen Migrations­abkommen gezimmerte angebliche Frauenfreu­ndschaft zwischen von der Leyen und Meloni nützt eher der Deutschen als der Italieneri­n. Für ihre Wiederwahl versucht von der Leyen die Lücke bei den EVP-Parlamenta­riern mit den radikalere­n Meloni-Leuten zu füllen, die bei der Wahl besonders gut abschneide­n dürften. Laut Umfragen rangieren die Fratelli d’Italia in Italien bei mehr als 27 Prozent.

Und Mario Draghi? Der hatte angeblich auch vor seiner Wahl zum italienisc­hen Ministerpr­äsidenten 2021 keine Ambitionen auf das Amt, ließ sich dann aber beknien und führte Italien aus der Pandemie. Er sei ein „Großvater im Dienst der Institutio­nen“, sagte der Italiener später dazu. Würden die Staatsund Regierungs­chefs der EU den 75-Jährigen bedrängen, würde er sich als Kommission­spräsident wohl kaum verweigern.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria