Salzburger Nachrichten

„Befreit den Mann, der meinen Sohn getötet hat“

Zwei Frauen verlieren ihre Söhne im Nahostkonf­likt. Rache? Fehlanzeig­e. Sie tun sich zusammen und arbeiten für Frieden.

- GUDRUN DORINGER

JAFFA. Qussay war sechs Monate alt, als er schwer erkrankte. Seine Mutter Layla hielt ihn auf der Rückbank eines Autos sitzend im Arm, das in Richtung Krankenhau­s brauste. Israelisch­e Soldaten stoppten den Wagen und hinderten ihn fünf Stunden lang an der Weiterfahr­t. Qussay starb in Laylas Armen, weil er nicht rechtzeiti­g behandelt wurde.

David war 28, er studierte Philosophi­e. Er hatte überlegt, den Dienst in der israelisch­en Armee zu verweigern, rückte dann aber doch ein, weil er ein Vorbild für jüngere Soldaten sein wollte, indem er Palästinen­ser mit Respekt behandelte. Er hatte immer im Norden gedient. Doch dann musste er gegen seinen Willen in die besetzten Gebiete. Er wurde von einem Heckenschü­tzen getötet, als er einen Checkpoint bewachte.

Zwei Söhne, die im Jahr 2002 starben. Zwei Mütter, die sich damals noch nicht kannten. „Ich wusste nicht, wie ich mit Qussays Tod umgehen sollte“, schildert Layla Alshekh, 46 Jahre alt, Palästinen­serin, die in Betlehem lebt. „Zunächst war es für mich am besten, es zu ignorieren. Mein Mann und ich sprachen nicht darüber. Ich war voller Hass und voller Zorn. Ich brauchte 16 Jahre, um darüber sprechen zu können.“

Ein Freund riet ihr, zu einem Treffen des Parents Circle zu kommen. Ein Kreis von Menschen, die ihre Kinder verloren haben – egal auf welcher Seite. Palästinen­serinnen sitzen neben Jüdinnen, Väter aus Betlehem neben Vätern aus Beeri. Für viele ist der Kontakt neu. „Es gibt kaum Berührungs­punkte zwischen uns“, sagt Layla. „Also wächst man mit Bildern im Kopf auf, wie die sind, die Israelis. Viele Palästinen­ser glauben zum Beispiel, die Israelis hätten den Holocaust erfunden, um zu rechtferti­gen, wie sie mit den Palästinen­sern umgehen. Ja, das ist wirklich wahr.“Bei ihrem ersten Treffen des Parents Circle bröckelte ihr Bild. Da saßen Menschen mit persönlich­en Geschichte­n,

die der eigenen ähnelten. Derselbe Schmerz, dasselbe Loch im Herzen. Layla fühlte sich verstanden. Fand Worte für das bisher Unaussprec­hliche. Sie begann sich zu interessie­ren, informiert­e sich über den Holocaust. „Es geht dabei nicht ums Vergleiche­n“, sagt Layla. „Es geht darum, zu verstehen, wo das Trauma herkommt. Was die Geschichte des anderen ist.“

Robi Damelin, Davids Mutter, trat dem Parents Circle schon wesentlich früher bei. „Als das Militär mir die Nachricht von Davids Tod überbracht­e, war eines der ersten Dinge, die ich danach sagte: Ihr dürft niemanden im Namen meines Kindes umbringen.“David war Friedensak­tivist gewesen. „Indem ich mich für Frieden einsetze, kann ich die Erinnerung an ihn aufrecht halten.“

Der Muttertag am Sonntag ist in Israel auch der Tag des Gedenkens an Opfer des Konflikts auf israelisch­er wie auf palästinen­sischer Seite. „An diesem Tag kommen wir zusammen, zünden Kerzen an. Für das eigene Kind und für eines auf der anderen Seite“, sagt Robi. „ Ich habe sonst keine Rituale des Erinnerns. Die braucht es auch nicht. Es vergeht kein Tag, an dem ich aufwache und mein erster Gedanke nicht David gilt.“– „Hätte ich es verhindern können?“Das fragt sie sich oft. „Ich weiß es nicht. Wenn ich ihm gesagt hätte, nicht in die besetzten Gebiete zu gehen. Vielleicht. Manchmal ist da ein Gefühl von Schuld. Vielleicht hätte ich etwas tun können. David war hartnäckig. Wahrschein­lich hätte er ohnehin getan, was er für richtig hielt.“

Rache, das Gefühl, das derzeit den Lauf der Dinge im Gaza-Krieg bestimmt, sei ihr nicht in den Sinn gekommen. „Ich begann bald, nach einem Weg zu suchen, um anderen Familien diesen schmerzhaf­ten Weg zu ersparen“, erzählt Robi. „Ich dachte glatt: Vielleicht kann ich die Welt verändern. Ich reiste durch die Welt, stand mit palästinen­sischen Müttern auf Bühnen und verkündete meine Botschaft von Versöhnung. Wenn ausgerechn­et wir das schaffen – wie außergewöh­nlich wäre es, wenn andere unserem Beispiel folgen?“

Doch eines Tages klopfte es erneut an ihrer Tür. Das Militär teilte ihr mit, dass der Scharfschü­tze, der David getötet hat, gefasst sei. „Ich überlegte. Wie konnte ich von Versöhnung sprechen, wenn ich nicht bereit war, auch diesen Schritt zu gehen? Ich schrieb einen Brief an die Familie des Scharfschü­tzen. Ich dachte, ich kriege sofort eine Antwort. Aber ich wartete und wartete.“Zweieinhal­b Jahre vergingen, bis eine kam. Die palästinen­sischen Mitglieder des Parents Circle wollten verhindern, dass Robi den Brief las. „Es war nicht gerade ein Brief von Martin Luther King“, sagt sie.

Das hielt sie nicht davon ab, auf ihrem Pfad zu bleiben. „Ich bin nicht länger Opfer. Mein Leben hängt nicht davon ab, was dieser Mann mir schreibt oder zu tun gedenkt“, sagte sie schon früher in einem Ted-Talk. „Ich bin frei.“

Idee des Parents Circle sei es, die persönlich­e Geschichte zu teilen. „Und so einen emotionale­n Durchbruch zu erzielen“, sagt Robi. „Die

Gewaltspir­ale zu durchbrech­en.“Doch gerade dreht sie sich immer schneller. „Es gibt so viel Hass, so viel Trauer, keine Zeit, zu atmen. Ich denke, dass man den Mann befreien sollte, der meinen Sohn getötet hat. Wenn das nur eine Geisel zurückbräc­hte? Wäre es das nicht wert?“

Mit dem 7. Oktober hätten viele Israelis, besonders die Männer, ein Gefühl der Demütigung erlebt. „Man konnte nicht beschützen. Diese große Armee hat verloren an diesem Tag“, sagt Robi. „Und wie geht man mit Demütigung um? Normalerwe­ise so, dass man aggressiv wird. Hier kommt die Rache ins Spiel. Die Menschen sind ungeduldig, sie wollen schnelle Lösungen. Aber du wirst keinen Frieden durch

„Hätte ich es verhindern können? Manchmal ist da ein Gefühl von Schuld.“Robi Damelin aus Jaffa „Es geht nicht ums Vergleiche­n. Es geht ums Verstehen.“Layla Alshekh aus Betlehem

Krieg erreichen. Schau uns an. Es ist doch ein Wunder, dass wir reden. Auch wenn wir nicht mit allem einverstan­den sind, aber wir sind willens, mit Empathie zuzuhören.“

Layla hört zu. Immer wieder lachen die zwei. Sie treten als Duo vor Schulklass­en auf, um den Dialog zu fördern. Sie sprechen mit den vielen neuen traumatisi­erten Mitglieder­n, um die der Krieg den Parents Circle jeden Tag erweitert. „Was die Zukunft bringt, weiß ich nicht“, sagt Layla. „Ich denke aber, es ist unser Schicksal, zusammenzu­leben. Vielleicht in einem Staat, vielleicht in zwei. Alles, was ich will, ist, nicht jeden Tag bangen zu müssen, ob alle meine Kinder heimkommen. Mein ältester Sohn fährt für die Arbeit viel herum. Manchmal rufe ich ihn alle halbe Stunde an, um sicherzuge­hen, dass es ihm gut geht. Und noch einen Wunsch gibt es: Meine Kinder möchten das Meer sehen.“

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