Der Geliebte im Schattenbild
Dibutade gilt als Erfinderin der Kunst. Die Liebe ist auch im Spiel, der Schatten aber hat die entscheidende Rolle inne. Er macht einen Seelenraum auf.
Den Schlagschatten ihres Geliebten an der Wand nutzt die junge Frau, um mit einem Stift sein Profil nachzufahren und ihn so für die eigene Erinnerung zu verewigen. Er wird in die Ferne ziehen, sie muss Abschied von ihm nehmen. Die antike Anekdote von Dibutade, Tochter eines korinthischen Töpfers, ist hier ins Bild gesetzt: Sie formt aus dem Schatten des Liebsten (s)ein Bildnis. Zahlreiche Interpretationen dieses Mythos vom Ursprung der Zeichenkunst und Malerei liegen vor, hier abgebildet ist ein Ölbild des deutschen Malers Eduard Daege aus dem Jahr 1832. Eingeschrieben in den Schatten sind die Liebe, das Begehren, aber auch der Verlust des Geliebten; vielleicht auch eine Vorahnung seines Todes. Der Kriegshelm zu Füßen des nackten Jünglings lässt diesen Tabugedanken aufkommen.
Für die Literaturwissenschafterin Corinna Sauter ist die Erfindung der Zeichnung und Malerei durch Dibutade genau das: „die Markierung der Abwesenheit im Versuch, den anwesendabwesenden Geliebten im Schattenbild präsent zu halten“. Dibutade sei daher auch als ein Gegennarrativ zum Pygmalion-Mythos gelesen worden. Dort erschafft ein Mann eine Frauenstatue nach seinem Wunschbild, die dann verlebendigt wird. „Im Unterschied dazu ist der Schatten bei
Dibutade die Fixierung und letztlich Mortifizierung des Lebendigen im Bild“, sagt Sauter. „Nicht zuletzt ist das Wort Schatten ja auch die Bezeichnung für die Seele der Toten, das kann man durchaus mitdenken.“
Eine Art Ursprungsmythos ist die Anekdote von Dibutade auch für die Literatur. Das betont Corinna Sauter. „Dibutade hat einen Griffel in der Hand – es ist eine Szene auch des Schreibens.“Über „Dibutade und die Frage weiblicher Autorschaft in Kunst und Literatur“spricht Sauter gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Christiane Kruse bei der öffentlichen Tagung „Schatten und Schattenseiten: Erkundungen in Kunst und Wissenschaft“. Diese Veranstaltung geht am 6./7. Juni in Salzburg über die Bühne. „Auch wenn Dibutade als Figur naheliegenderweise in der Literatur – im Unterschied zur Kunst und Kunstgeschichte – seltener zu finden ist, gibt es doch eine ganze Reihe insbesondere lyrischer Dibutade-Gedichte“, sagt Corinna Sauter. Dibutade sei vor allem in der französischen und englischsprachigen Literatur rezipiert worden. Bei der Tagung wird die Germanistin nun den Bogen spannen von deutschsprachigen Schriftstellerinnen der frühen Aufklärung über die Romantik zum Biedermeier bis in die Gegenwart und der Dibutade als einem Denkbild einer „Écriture féminine“.
So wie Dibutade ein Schattenbild oder eine Schattenschrift schafft, so ist der Schatten eine „zentrale Figuration“der Künste und Kulturwissenschaften. Das unterstreicht Hildegard Fraueneder, Leiterin des Programmbereichs „Figurationen des Übergangs“an der Einrichtung Wissenschaft & Kunst von Mozarteum und Universität Salzburg. Die Kunsthistorikerin hat die Tagung „Schatten und Schattenseiten“mitkonzipiert. „Die Erkundungen werden auch ökologische Dimensionen ansprechen, so die bedrohte Dunkelheit durch Lichtverschmutzung.“Eine neue Aktualisierung erfährt der Schattendiskurs ihrer Einschätzung nach als „Markierung des Abwesenden“, indem das gezeigt wird, das nicht berücksichtigt wurde. Als Beispiel nennt sie die Arbeit der Künstlerin Isa Rosenberger, die vergessene Architektinnen, Tänzerinnen und Künstlerinnen thematisiere.
Widersprüchliches kommt Fraueneders Worten nach oft mit dem Schatten ins Spiel – Kehrseiten des „Lichts der Vernunft“; er könne sich verselbstständigen und von Körpern losgelöst dunkle seelische Seiten andeuten. Sie verweist auf das Bild „Der lange Schatten“von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein aus 1805. Bedrohlich und rätselhaft werde der Schatten in der Folge in der symbolischen, metaphysischen und surrealistischen Kunst (Edvard Munch, Giorgio de Chirico, René Magritte).
Wie sich der Schatten in der Bildsprache vom Wirklichkeitsbezug verselbstständigte und zum Lieblingsthema der Avantgarde wurde, das zeigt der Kunsthistoriker Victor I. Stoichita in seinem Buch „Eine kurze Geschichte des Schattens“(Wilhelm-Fink-Verlag, 1999). Dieser Blick auf die Schattenästhetik macht einen Raum auf – für all das, was nicht sichtbar ist, nicht greifbar, für den Raum der Psyche, der Seele, und damit auch für Tabus.