Hauptstadt der Zubetonierer?
An Wiener Neustadt scheiden sich die Geister: Nirgends werde so viel Boden versiegelt, meinen die Kritiker. Stimmt überhaupt nicht, sagt die Stadtregierung. Wer hat recht?
Ist der Ruf einmal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Eine Plattitüde, die für Wiener Neustadt nur zur Hälfte zutrifft. Ja, der Ruf ist nicht der beste. Doch die Kritik am Aussehen der 47.000Einwohner-Metropole an der Südautobahn verstummt nicht. Aktuell wegen geplanter Straßenbauprojekte. Stichwort: Ostumfahrung. Hauptanklagepunkt in der hitzigen Diskussion rund um Flächenverbrauch und Bodenversiegelung: viel zu viel Beton. Überhaupt sei Wiener Neustadt die „Betonhauptstadt Österreichs“. Aber stimmt das?
Teil 1 des Beweisverfahrens: eine Radtour mit Startpunkt Fußgängerzone rund um den Hauptplatz. Alles okay. Viele Geschäfte stehen leer. Aber das ist kein Spezifikum der „Allzeit Getreuen“, wie Kaiser Maximilian seine Residenzstadt nannte. Weil ihm die Bürger hier freundlicher gesinnt waren als jene in Wien. Es gibt breite Durchzugs- und Ausfallstraßen, die jede Menge an Verkehrslast zu tragen haben. Rund 40.000 Autos pro Tag. Dazu zwei Einkaufszentren (Fischapark, Merkurcity) an den Rändern. Dazwischen aber immer wieder ruhige Flecken, wo Bäche und Kanäle gurgeln, im Nordosten sogar eine kleine Au. Ihr aber droht Gefahr. Weil: Ostumfahrung. Dann noch die Gleisstränge der Südbahn, die die Stadt in zwei Teile zerschneiden. Das war’s. Fazit: In Wiener Neustadt lässt es sich leben. Zwar gibt es schönere Orte; doch kaum ein anderer wurde im Zweiten Weltkrieg mit Zehntausenden Bomben so regelrecht ausradiert wie dieser. Gründe: Rüstungsindustrie, Flugzeugwerke, Eisenbahnknoten. Von 3000 Gebäuden blieben nur 18 unversehrt.
Teil 2 des Beweisverfahrens: die Zahlen. Zunächst: Wird Fläche in Anspruch genommen, gilt sie nicht unbedingt gleich als versiegelt. Der Versiegelungsanteil liegt zwischen 41 und 58 Prozent. Laut Österreichischer Raumordnungskonferenz betrug 2022 der Flächenverbrauch in Wiener Neustadt knapp 537 m2 pro Kopf. Zum Vergleich: Linz 256 m2, Graz 254 m2, Salzburg 220 m2, Innsbruck 174 m2. Der Wiener Bezirk mit
dem höchsten Anteil ist Hietzing mit 264 m2. Der Anteil der in Anspruch genommenen Fläche am Dauersiedlungsraum beträgt in Wiener Neustadt 56,7 Prozent (Linz: 68,4%, Graz: 70,9%, Salzburg: 58,8%, Wien-Neubau: 99,9%).
Was den Anteil an versiegelter
257 m2 versiegelter Boden pro Kopf
Fläche betrifft, so beträgt dieser in Wiener Neustadt 257 m2 pro Kopf, in Linz 153 m2, Graz 130 m2, Salzburg 135 m2 und in Wien-Innere Stadt 159 m2. Achtung: Im Bezirk Waidhofen an der Thaya beträgt dieser Anteil 950 m2. Das kleine Waldkirchen an der Thaya mit seinen 494 Einwohnern weist gar einen Pro-KopfWert von 2186 m2 auf und ist somit Österreichs meistversiegelte Gemeinde. SN-Anruf in Waldkirchen. „Was ist denn da los bei euch?“Fabriken, Autobahnen, Hotelburgen? Die Amtsleiterin ist ratlos: „Nein, nichts dergleichen. Nur ein Lagerhaus. Sonst ist rundherum alles grün.“
Auf Nachfrage beim Umweltbundesamt (UBA) heißt es: Die hohe Pro-Kopf-Versiegelung sei für periphere
ländliche Regionen nichts Ungewöhnliches. Zumeist werde nämlich die Gesamteinwohnerzahl unterschätzt. Gibt es überproportional viele Zweitwohnsitzer, kann diese enorm ansteigen. In den Berechnungen werden jedoch nur die Hauptwohnsitzer berücksichtigt. Deswegen sei die Pro-Kopf-Versiegelung in kleinen Gemeinden mit geringer Bevölkerungsdichte oft besonders hoch, da sich die Fläche für Infrastruktur und Gebäude auf wenige Einwohner verteile.
Beim Versiegelungsanteil am Dauersiedlungsraum liegt Wiener Neustadt mit 27,2 Prozent deutlich hinter Linz (41%), Salzburg (36%), Graz (36%) oder Wien-Neubau (92,7%). UBA-Experte Gebhard Banko erklärt: „Ein Vergleich hinsichtlich Versiegelung von Gemeinden kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Es können dafür unterschiedliche Indikatoren herangezogen werden, wie zum Beispiel die versiegelte Gesamtfläche in der Gemeinde. Der Wert an versiegelter Fläche kann auch in Bezug zur Einwohnerzahl, zur Gemeindegröße, zum Dauersiedlungsraum und zur Flächeninanspruchnahme gesetzt werden. Je nach Wahl des Indikators werden unterschiedliche Ebenen
beleuchtet, das führt zu unterschiedlichen Reihungen.“Soll heißen: Es ist kompliziert.
Apropos Betrachtungsebenen: In Wiener Neustadt gibt es das Flugfeld-West. 1909 eröffnet ist der Militärflugplatz einer der ersten seiner Art weltweit. Und er ist eine gigantische Wiese, die fast einem Zehntel der Stadtfläche entspricht.
Lange war er als Verkehrsfläche gewidmet, das hat die Stadt nun geändert. Ihre Vertreter weisen zudem darauf hin, dass es seit 2015 keine einzige Umwidmung in Bauland gegeben habe, dafür jedoch die Sicherung von 515 Hektar Grünland.
Kritiker hingegen monieren, dass bereits jetzt 400 Hektar Ackerflächen für eine künftige Verbauung bereitstünden. Der 2022 beschlossene Stadtentwicklungsplan sehe große Erweiterungen von Gewerbezonen vor. Man sei zwar in den Diskussionsprozess einbezogen worden, doch wäre kein einziger Vorschlag berücksichtigt worden.
Urteil: Wiener Neustadt ist vom Vorwurf der Betonhauptstadt freizusprechen. Allerdings nur auf Bewährung.