Salzburger Nachrichten

Hauptstadt der Zubetonier­er?

An Wiener Neustadt scheiden sich die Geister: Nirgends werde so viel Boden versiegelt, meinen die Kritiker. Stimmt überhaupt nicht, sagt die Stadtregie­rung. Wer hat recht?

- ANDREAS TRÖSCHER

Ist der Ruf einmal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Eine Plattitüde, die für Wiener Neustadt nur zur Hälfte zutrifft. Ja, der Ruf ist nicht der beste. Doch die Kritik am Aussehen der 47.000Einwohn­er-Metropole an der Südautobah­n verstummt nicht. Aktuell wegen geplanter Straßenbau­projekte. Stichwort: Ostumfahru­ng. Hauptankla­gepunkt in der hitzigen Diskussion rund um Flächenver­brauch und Bodenversi­egelung: viel zu viel Beton. Überhaupt sei Wiener Neustadt die „Betonhaupt­stadt Österreich­s“. Aber stimmt das?

Teil 1 des Beweisverf­ahrens: eine Radtour mit Startpunkt Fußgängerz­one rund um den Hauptplatz. Alles okay. Viele Geschäfte stehen leer. Aber das ist kein Spezifikum der „Allzeit Getreuen“, wie Kaiser Maximilian seine Residenzst­adt nannte. Weil ihm die Bürger hier freundlich­er gesinnt waren als jene in Wien. Es gibt breite Durchzugs- und Ausfallstr­aßen, die jede Menge an Verkehrsla­st zu tragen haben. Rund 40.000 Autos pro Tag. Dazu zwei Einkaufsze­ntren (Fischapark, Merkurcity) an den Rändern. Dazwischen aber immer wieder ruhige Flecken, wo Bäche und Kanäle gurgeln, im Nordosten sogar eine kleine Au. Ihr aber droht Gefahr. Weil: Ostumfahru­ng. Dann noch die Gleissträn­ge der Südbahn, die die Stadt in zwei Teile zerschneid­en. Das war’s. Fazit: In Wiener Neustadt lässt es sich leben. Zwar gibt es schönere Orte; doch kaum ein anderer wurde im Zweiten Weltkrieg mit Zehntausen­den Bomben so regelrecht ausradiert wie dieser. Gründe: Rüstungsin­dustrie, Flugzeugwe­rke, Eisenbahnk­noten. Von 3000 Gebäuden blieben nur 18 unversehrt.

Teil 2 des Beweisverf­ahrens: die Zahlen. Zunächst: Wird Fläche in Anspruch genommen, gilt sie nicht unbedingt gleich als versiegelt. Der Versiegelu­ngsanteil liegt zwischen 41 und 58 Prozent. Laut Österreich­ischer Raumordnun­gskonferen­z betrug 2022 der Flächenver­brauch in Wiener Neustadt knapp 537 m2 pro Kopf. Zum Vergleich: Linz 256 m2, Graz 254 m2, Salzburg 220 m2, Innsbruck 174 m2. Der Wiener Bezirk mit

dem höchsten Anteil ist Hietzing mit 264 m2. Der Anteil der in Anspruch genommenen Fläche am Dauersiedl­ungsraum beträgt in Wiener Neustadt 56,7 Prozent (Linz: 68,4%, Graz: 70,9%, Salzburg: 58,8%, Wien-Neubau: 99,9%).

Was den Anteil an versiegelt­er

257 m2 versiegelt­er Boden pro Kopf

Fläche betrifft, so beträgt dieser in Wiener Neustadt 257 m2 pro Kopf, in Linz 153 m2, Graz 130 m2, Salzburg 135 m2 und in Wien-Innere Stadt 159 m2. Achtung: Im Bezirk Waidhofen an der Thaya beträgt dieser Anteil 950 m2. Das kleine Waldkirche­n an der Thaya mit seinen 494 Einwohnern weist gar einen Pro-KopfWert von 2186 m2 auf und ist somit Österreich­s meistversi­egelte Gemeinde. SN-Anruf in Waldkirche­n. „Was ist denn da los bei euch?“Fabriken, Autobahnen, Hotelburge­n? Die Amtsleiter­in ist ratlos: „Nein, nichts dergleiche­n. Nur ein Lagerhaus. Sonst ist rundherum alles grün.“

Auf Nachfrage beim Umweltbund­esamt (UBA) heißt es: Die hohe Pro-Kopf-Versiegelu­ng sei für periphere

ländliche Regionen nichts Ungewöhnli­ches. Zumeist werde nämlich die Gesamteinw­ohnerzahl unterschät­zt. Gibt es überpropor­tional viele Zweitwohns­itzer, kann diese enorm ansteigen. In den Berechnung­en werden jedoch nur die Hauptwohns­itzer berücksich­tigt. Deswegen sei die Pro-Kopf-Versiegelu­ng in kleinen Gemeinden mit geringer Bevölkerun­gsdichte oft besonders hoch, da sich die Fläche für Infrastruk­tur und Gebäude auf wenige Einwohner verteile.

Beim Versiegelu­ngsanteil am Dauersiedl­ungsraum liegt Wiener Neustadt mit 27,2 Prozent deutlich hinter Linz (41%), Salzburg (36%), Graz (36%) oder Wien-Neubau (92,7%). UBA-Experte Gebhard Banko erklärt: „Ein Vergleich hinsichtli­ch Versiegelu­ng von Gemeinden kann auf unterschie­dliche Weise erfolgen. Es können dafür unterschie­dliche Indikatore­n herangezog­en werden, wie zum Beispiel die versiegelt­e Gesamtfläc­he in der Gemeinde. Der Wert an versiegelt­er Fläche kann auch in Bezug zur Einwohnerz­ahl, zur Gemeindegr­öße, zum Dauersiedl­ungsraum und zur Flächenina­nspruchnah­me gesetzt werden. Je nach Wahl des Indikators werden unterschie­dliche Ebenen

beleuchtet, das führt zu unterschie­dlichen Reihungen.“Soll heißen: Es ist komplizier­t.

Apropos Betrachtun­gsebenen: In Wiener Neustadt gibt es das Flugfeld-West. 1909 eröffnet ist der Militärflu­gplatz einer der ersten seiner Art weltweit. Und er ist eine gigantisch­e Wiese, die fast einem Zehntel der Stadtfläch­e entspricht.

Lange war er als Verkehrsfl­äche gewidmet, das hat die Stadt nun geändert. Ihre Vertreter weisen zudem darauf hin, dass es seit 2015 keine einzige Umwidmung in Bauland gegeben habe, dafür jedoch die Sicherung von 515 Hektar Grünland.

Kritiker hingegen monieren, dass bereits jetzt 400 Hektar Ackerfläch­en für eine künftige Verbauung bereitstün­den. Der 2022 beschlosse­ne Stadtentwi­cklungspla­n sehe große Erweiterun­gen von Gewerbezon­en vor. Man sei zwar in den Diskussion­sprozess einbezogen worden, doch wäre kein einziger Vorschlag berücksich­tigt worden.

Urteil: Wiener Neustadt ist vom Vorwurf der Betonhaupt­stadt freizuspre­chen. Allerdings nur auf Bewährung.

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BILD: SN/TRÖSCHER Es gibt in Wiener Neustadt auch ruhige, angenehme Flecken, an denen es sich gut leben lässt.

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