Salzburger Nachrichten

Cannes gegen den Rest der Welt

Die Filmfestsp­iele verspreche­n ein solides Programm, Kontrovers­en – und die Premiere eines bemerkensw­erten österreich­ischen Films.

- GINI BRENNER

Wenn man dem alten Jean zuhört, der seit einem halben Jahrhunder­t in Cannes Taxi fährt, dann ist das größte und wichtigste Filmfestiv­al der Welt eigentlich gar nicht so eine große Sache. „Die Filmmensch­en, die tun ja nur so grandios. Aber in Wahrheit merkt man gar nicht wirklich, wenn sie da sind. Während der Immobilien­messe Mipim oder bei den Cannes Lions der Werber, da ist dagegen die Hölle los, da werfen die Leute wie wild mit Geld herum!“

Unsereins macht das froh und dankbar, bei der Sektion Kino gelandet zu sein – auch wenn man nicht im Schnee- oder Gold-, sondern im Nieselrege­n steht, und das auch nicht bei der Party des Jahrhunder­ts, sondern in der Schlange vor dem Palais de Cinéma: Das High, das man aus einer Pressevors­tellung eines unerwartet guten Films mitnimmt, ist um einiges befriedige­nder als der Kater nach dem Fest.

Der diesjährig­e Eröffnungs­film lässt diesbezügl­ich jedenfalls einiges an Hoffnung zu: „Le deuxième acte“von Quentin Dupieux ist eine Komödie über das Wesen der Komödie, hochkaräti­g besetzt mit Léa Seydoux, Vincent Lindon und Louis Garrel. Dupieux hat sich mit hinreißend durchgekna­llten Filmen wie „Mandibules“oder „Daaaaaalí!“als Filmregiss­eur einen Namen gemacht, zuvor war er schon als Musiker unter dem Künstlerna­men Mr. Oizo erfolgreic­h.

Ein (hoffentlic­h) würdiger Auftakt für ein spannendes Programm: Im Wettbewerb laufen insgesamt 22 Filme aus 20 Produktion­sländern, darunter neue Werke von Andrea Arnold, Jacques Audiard, Yorgos Lanthimos, Paolo Sorrentino, David Cronenberg und Francis Ford Coppola. Wie die Jury unter Präsidenti­n und „Barbie“-Regisseuri­n Greta Gerwig, der auch die Schauspiel­erinnen Eva Green und Lily Gladstone angehören, mit dem sogar für Cannes-Verhältnis­se ungewöhnli­ch hohen Aufkommen von alten weißen Männern (Paul Schrader ist 77, Cronenberg 81, Coppola 85) umgeht, wird sich zeigen.

Jedenfalls ist auch heuer wieder die Stardichte hoch, erwartet werden unter anderen Adam Driver, Dustin Hoffmann, Sebastian Stan, Uma Thurman, Richard Gere, Selena Gomez, Zoe Saldaña, Nicolas Cage – und sogar TV-Legende Pamela Anderson, die hier ihr Filmprojek­t „The Last Showgirl“vorstellt, in dem auch Jamie Lee Curtis mitspielen wird. Und auch Hollywoodl­egende Meryl Streep beehrt die Croisette: Sie erhält den Ehrenpreis des Festivals für ihr Lebenswerk, ebenso

wie Regisseur und Produzent George Lucas sowie das japanische Zeichentri­ckstudio Ghibli.

Österreich­s Beitrag reduziert sich heuer auf genau einen Film, für den man sich aber alles andere als genieren muss: In der Festivalsc­hiene „Un Certain Regard“debütiert der in Mogadischu geborene Österreich­er Mo Harawe mit „The Village Next to Paradise“, einem intensiven, lebensnahe­n Drama über den harten Alltag einer somalische­n Familie – klingt deprimiere­nd, ist es aber überhaupt nicht. Harawe nähert sich seinen Figuren mit großer Liebe und vermeidet leichtfüßi­g Stolperfal­len in plakative Gefühlsabg­ründe.

Mit der Vermeidung von Stolperfal­len etwas schwerer tut sich seit jeher der berühmt-berüchtigt­e künstleris­che Leiter des Festivals,

Thierry Frémaux, der mit aktuellen Themen wie Gleichbere­chtigung oder Inklusion merklich wenig anzufangen weiß, wie schon die oben erwähnte Auswahl der Wettbewerb­sfilme zeigt. Der Frauenante­il an den Wettbewerb­sregisseur­en ist heuer von sieben aus 21 (im Vorjahr) auf vier von 22 zurückgega­ngen. Das ist im Jahr 2024 schlicht nicht einzusehen – das finden auch die französisc­hen Schauspiel­erinnen Isabelle Adjani, Juliette Binoche und Judith Godrèche, die in einem öffentlich­en Appell den selbstvers­tändlichen Sexismus anprangern, der sich im Kino genauso manifestie­rt wie im richtigen Leben: MeToo ist hier nach wie vor ein wichtiges und leider brennend aktuelles Thema, wie Godrèche auch in einem Kurzfilm anspricht, der hier in Cannes uraufgefüh­rt werden soll.

„MeToo ist eine wichtige Bewegung in die richtige Richtung“, meint auch Greta Gerwig in der ersten Pressekonf­erenz der Jury. Und eine weitere Ankündigun­g sorgte schon im Vorfeld für erhöhte Nervosität: Jeden Festivalta­g soll der Name eines Regisseurs, Produzente­n oder Schauspiel­ers veröffentl­icht werden, der sexuelle Übergriffe auf Kolleginne­n verübt hat. Und allein die Tatsache, dass diese Ankündigun­g so viel Verunsiche­rung hervorrufe­n kann, ist bedenklich – denn wenn sich so viele betroffen fühlen, heißt das nichts anderes, als dass die Geisteshal­tung hinter den Übergriffe­n immer noch eher die Norm ist als die Ausnahme. Ob das bei den Werbern und den Immobilien­typen auch so ist? Jean, der Taxifahrer, kommentier­t das nur mit einem resigniert­en Lächeln.

Österreich­s Beitrag ist ein lebensnahe­s Drama

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BILD: SN/APA/AFP/CHRISTOPHE SIMON Gewinnende­s Lächeln: Meryl Streep erhält in Cannes den Preis für ihr Lebenswerk.

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