Leben wir in den 30er Jahren?
Der rechte und der linke Rand werden immer stärker, Radikalisierung macht sich breit, politische Gewalt nimmt zu. Erinnerungen an die Zwischenkriegszeit werden wach, sagt der Historiker und Ex-Politiker Franz Schausberger.
Von 1996 bis 2004 war Franz Schausberger (ÖVP) Landeshauptmann von Salzburg. Als Historiker beschäftigt er sich speziell mit der Zwischenkriegszeit in Österreich.
SN: Gibt es Parallelen zwischen der heutigen politischen Lage und den 1930er-Jahren?
Franz Schausberger: Diese Frage beschäftigt mich sehr, weil ich mir über die derzeitige politische Kultur große Sorgen mache. Wir erleben heute eine unglaubliche Radikalisierung der Sprache, die dann durchaus auch zu Handlungen führt.
SN: Sie meinen das Attentat auf den slowakischen Präsidenten und die Angriffe auf deutsche Politiker ...
Oder den Kunstblutangriff auf Ministerin Karoline Edtstadler. Der hätte auch anders enden können. Aber es geht nicht nur um die 30erJahre, man kann auch Parallelen zu den 1920er-Jahren feststellen. Zwar ist es in der Geschichte nie so, dass zwei Perioden genau gleich ablaufen. Aber es gibt Parallelitäten, und aufgrund derer muss man sich große Sorgen um das demokratische
Miteinander in unserem Land machen. Ich kann an die Politiker nur appellieren: „Owa vom Gas!“Das ist in Salzburg ein Slogan gegen Raser im Straßenverkehr, aber er wäre auch in der Politik ganz wichtig.
SN: Welche sind die Parallelen, die Sie zu früher sehen?
Wenn der Chef einer rechtspopulistischen und mittlerweile extrem rechten Partei von den „Systemparteien“und vom „System“spricht, das es zu bekämpfen gelte, dann sind das genau die Worte aus der Zwischenkriegszeit, die damals der Nationalsozialismus gebraucht hat. Genauso unakzeptabel ist es, wenn er mit Listen von Leuten droht, die unter ihm mit Verfolgung zu rechnen haben werden. Er sagt das ja nicht zufällig. Das ist eine absichtliche, ungustiöse Wiederbelebung der NS-Rhetorik. Und das wird meiner Meinung nach zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Auch der Volkskanzler ist irgendwann zum Führer geworden.
SN: Also besteht Gefahr für die Demokratie vor allem von der rechten Seite?
Auf der anderen, der linken Seite, erleben wir an den Universitäten derzeit ein absolut inakzeptables Wiederaufleben des Antisemitismus. Das erinnert an die Kämpfe an den Universitäten in der Zwischenkriegszeit. Damals wurden jüdische Studenten und Professoren von den Universitäten verjagt, einfach weil sie Juden waren. Und heute gibt es wieder antijüdische Aktionen an den Universitäten. Das zeigt: An beiden politischen Rändern sehen wir Entwicklungen, denen man ganz deutlich entgegentreten muss. Man darf sie nicht verharmlosen.
Aber Tatsache ist, dass die FPÖ rechts und die KPÖ links derzeit starken Zulauf haben. Ist das nicht eine demokratische Entwicklung, die zu akzeptieren ist?
SN:
Nach Jahrzehnten, in denen es immer nur aufwärtsgegangen ist, haben wir offenbar verlernt, mit Krisen umzugehen. Viele Menschen sind heute angefressen auf die Politik – aus den unterschiedlichsten Gründen. Einer davon war sicher Corona und die verqueren Verschwörungstheorien, die sich gegen die Regierung gerichtet haben. Daher wählen viele Menschen jetzt die politischen Ränder, die die Unzufriedenheit auch noch schüren.
Aber die Menschen sollten bedenken, was sie damit anrichten.
SN: Finden Sie, dass die Demokratie wirklich – so wie damals – in Gefahr ist?
In den 30er-Jahren waren nicht weniger als 13 Staaten in Europa autoritär regiert. Man muss also aufpassen: Die Demokratie ist immer in Gefahr, ins Autoritäre abzugleiten. Sie muss wehrhaft verteidigt werden. Wehret den Anfängen!
SN: Aber wie macht man das?
Ich komme noch einmal zum Anfang zurück: indem man die Radikalisierung der Sprache zurückfährt. Ich war wirklich erschrocken über manche Parteivertreter in den U-Ausschüssen: Aus denen ist der blanke Hass hervorgebrochen. Und man weiß, wohin das führen kann.
SN: Was meinen Sie damit?
Die aggressive Sprache in der Zwischenkriegszeit hat manche labilen Menschen dazu verführt, gewaltsam gegen den vermeintlichen Feind vorzugehen. Es ist fast genau 100 Jahre her, dass der österreichische Bundeskanzler Ignaz Seipel am 1. Juni 1924 von einem sozialdemokratischen Arbeiter – nicht von der Partei! – bei einem Attentat schwer verwundet wurde. Und nur wenige Monate später – 1925 – wurde der sozialdemokratische Journalist Hugo Bettauer von einem Nationalsozialisten ermordet. Das sind nur zwei Beispiele, wohin Radikalisierung führt.
Aber je radikaler die Wortmeldung, desto größer die Aufmerksamkeit. Diese Logik scheint schwer zu durchbrechen.
SN:
Ich gehe doch davon aus, dass die Menschen mehrheitlich eine ruhige, vernünftige Politik der Mitte haben wollen, und nicht eine aufgeregte, radikale Politik der Ränder.
SN: Aber warum wird die Mitte dann nicht gewählt?
In Umfragen sagen fast 50 Prozent, dass sie sich nicht mehr ihre Meinung zu sagen getrauen, weil sie sonst von der linksliberalen Meinungsdiktatur niedergemacht werden. Man sollte darüber nachdenken, ob das linksliberale Moralisieren nicht dazu geführt hat, dass auf der anderen Seite die Rechten erstarkt sind. Auf Kosten der Mitte.