Salzburger Nachrichten

„Eindeutig erleben wir eine Verrohung der Gesellscha­ft“

Sozialpsyc­hologe Dieter Frey nimmt aber jeden Bürger und jede Bürgerin mit in die Pflicht. Zivilcoura­ge lasse sich lernen.

- INGO HASEWEND Zur Person: Professor Dieter Frey ist Leiter des Center for Leadership and People Management der Ludwig-Maximilian-Universitä­t München.

SN: Herr Professor Frey, erleben wir gerade eine Verrohung der Gesellscha­ft?

Dieter Frey: Eindeutig erleben wir eine Verrohung der Gesellscha­ft. Die Menschen sind dünnhäutig­er, aggressive­r und intolerant­er geworden – sowohl auf den Straßen als Auto- oder Radfahrer oder als Fußgänger als auch im politische­n und privaten Umgang.

SN: Protest auf der Straße, Reden auf politische­n Veranstalt­ungen und Diskussion­en im Netz scheinen radikaler geworden zu sein. Wird unsere Gesellscha­ft aggressive­r?

Ja, in allen westlichen liberalen Gesellscha­ften sieht man eine Polarisier­ung zwischen den Lagern. Der Ton, die Wortwahl werden aggressive­r, gewalttäti­ger, teilweise von Hass erfüllt. Dies schaukelt sich auf.

Unterstütz­t wird dies natürlich durch die sozialen Medien, in denen man anonym negative, aggressive und menschenve­rachtende Statements sehr oft ohne Bestrafung­sgefahr präsentier­en kann. Bei negativen Statements steigen die Likes, nach denen Menschen süchtig sind, weil sie sich damit auch anerkannt fühlen. Dies ist eine problemati­sche Entwicklun­g.

Neben der gesunkenen Hemmschwel­le für Gewalt und der verbalen Aufrüstung sprechen wir insgesamt von einem Verlust von Werten. Sind die gestiegene­n Angriffe auch Ausdruck dessen?

SN:

Die Ursachen für die gesunkenen Hemmschwel­len sind in den vielen Krisen, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, zu finden: Finanzkris­e, Flüchtling­skrise, Coronakris­e, Klimakrise, Kriege. Das alles verunsiche­rt die Menschen. Die wirtschaft­liche Verunsiche­rung und die

Krisen bewirken Frustratio­n, Kontrollve­rlust und Ängste. Wir wissen, dass solche Negativemo­tionen auch immer mit zwei Konsequenz­en verbunden sind: erhöhte Aggression gegenüber Minoritäte­n und die Sündenbock­suche nach Personen, die man dafür verantwort­lich machen kann. In unserem Fall hält man die Politiker oder die Repräsenta­nten des Staats für verantwort­lich. Insgesamt haben diese negativen Gefühle, die durch Krisen entstanden sind, immer auch einen Verlust an Werten wie Respekt, Wertschätz­ung, Vertrauen mit sich gebracht. Die Konsequenz ist natürlich, dass die Demokratie in Zweifel gezogen wird, weil man schnell sagt, sie löse die Probleme nicht. Dies geschieht insbesonde­re dann, wenn man sieht, dass die politische­n Parteien die polarisier­ende und gewaltvoll­e Sprache übernehmen. Dann bilden sie quasi die intellektu­elle Grundlage, dass Menschen dies auch in ihren Bereichen bei vielen politische­n Themen übernehmen. Wir haben sehr oft unter den politische­n Repräsenta­nten keine Vorbilder.

Wie können wir beginnen, diesem Trend zu begegnen, und wen sehen Sie in der Pflicht?

Zunächst muss ein Konsens bestehen, dass Gewaltparo­len und menschenve­rachtende Äußerungen sowohl in der Sprache als auch im Handeln ein absolutes No-Go sind. Dieselben Werte und Prinzipien, die im öffentlich­en Umgang gelten, gelten ebenso in den sozialen Medien. Gewalttate­n müssen schnell und hart bestraft werden. Hass- und Gewaltparo­len sowie die Verachtung von Menschenwü­rde müssen aber auch bestraft werden. Wichtig ist die Aufklärung in den Schulen, Universitä­ten und Firmen, was Demokratie bedeutet. Es muss herausgest­ellt werden, dass es Pluralismu­s bedeutet und heterogene Meinungen und Dissens nicht unbedingt etwas Negatives sind. Dies muss man den Menschen erklären. Gefordert sind letztlich alle, die Zivilcoura­ge zeigen, dort, wo eine offene Gesellscha­ft und eine Demokratie durch Taten oder Worte, Herabwürdi­gungen oder durch das Infrageste­llen unseres demokratis­chen Systems angegriffe­n werden. Da kann kein Bürger sagen, er ist nur ein Beobachter. Er muss zum Akteur werden. Auch hier gilt es die Menschen in Zivilcoura­ge auszubilde­n.

„Gefordert sind letztlich alle.“Dieter Frey, Sozialpsyc­hologe

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