Woher kommt der Geist?
Pfingsten – ein sehr aktuelles Fest. Es erinnert uns daran, dass wir Menschen mehr gemeinsam haben, als uns trennt. Und dass das Leben ein Tanz sein sollte – und keine Leistungsshow.
in SN-Gespräch mit der Philosophin Ariadne von Schirach über den Geist, in dem das Andere begegnet, und die Idee, dass wir mehr gemeinsam haben als uns trennt.
Das Pfingstwunder war unerwartet. Was ist dieser Geist, der so plötzlich kommt?
SN:
Ariadne von Schirach: Ein Mensch zu sein bedeutet, Geist zu besitzen. Aber weil wir alle das immer wieder vergessen, müssen wir uns immer wieder daran erinnern. Bei der Einkehr in uns begegnen wir uns als Gewordene ebenso wie als Werdende. Unser Geist ist der Ort des Anderen, der Ort des Möglichen, der Ort, wo Inspiration und Innovation beginnen. Wenn wir uns immer wieder neu die Arbeit machen, uns an diesem Anderen zu bilden, können wir die Widersprüche balancieren, die uns alle innewohnen, und einen angemessenen Umgang mit dem Möglichen und dem Notwendigen finden. Bis zur nächsten Krise (lacht).
SN: Warum leben wir so oft an dem vorbei, was möglich oder notwendig wäre?
Es ist nicht leicht, ein Mensch zu sein. Und gerade ist es vielleicht besonders schwer. Ein üblicher Irrtum besteht darin, die Welt, so wie sie ist, für notwendig zu halten. Doch die Welt wird von Menschen gemacht, und wir machen alle erst einmal mit. Das ist der Geist als Zeitgeist. Das ist das Ego. Wenn wir anfangen zu fragen, wie könnten wir sein, wie wollten wir sein, wie könnte es gehen, komme ich vom Ego zum Ich. Ich spreche selbst, ich werde mündig.
Dieses Hinterfragen dessen, was ist, ist letztlich bei allen Menschen die Aufgabe jeder neuen Generation. Der zweite Irrtum ist eine sehr westliche und sehr moderne Fehleinschätzung. Sie besteht darin, die Menschenwelt für die einzige Welt zu halten. Das beraubt uns der Vielfalt möglicher Weltbeziehungen in einem lebendigen Kosmos. Wenn ich die Welt der Natur, der Tiere und unserer Schöpfungen auf ihre Nützlichkeit reduziere, wird dem großen Geschenk des Menschseins ein allzu kleines Kleid angezogen.
SN: Zu Pfingsten haben einander plötzlich alle verstanden. Ist der Geist die globale Idee des Zusammengehörens?
Das Wunder von Pfingsten erzählt von lauter Fremden, über die der Heilige Geist kam, und sie erkannten sich als Brüder und Schwestern. Das Fest erinnert uns daran, dass wir Menschen mehr gemeinsam haben als uns trennt, weil wir im Inneren die gleiche Sprache sprechen. Trotzdem ist jede und jeder einzigartig. Das Wunder besteht darin, man selbst zu sein und zugleich Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Das erzeugt Sinn.
Bei Hegel und Frankl heißt unser Sinn-Organ Gewissen. Das Gewissen ist der Anwalt des Anderen. Wir können ihm zuhören, aber wir können auch weghören. Doch damit trennen wir uns zugleich von uns selbst, von unserer eigenen Lebendigkeit. Wenn wir jeden Morgen in den Spiegel schauen wollen, sollten wir darauf achten, dass in unserem Leben alles einigermaßen ajour ist, dass wir also unsere Schulden begleichen, unsere Schmerzen behüten und unsere Liebe entäußern.
SN: Was würde es demnach heißen, ein geistreicher, inspirierter Mensch zu sein?
Geistreich und inspiriert sein heißt ja nicht unbedingt, dass ich mich ausstülpe in den sozialen Medien und super Postings mache, sondern dass durch mich etwas durchgeht, was die Welt bereichert. Inspiration ist eine Einladung, dort vieles zu sehen, wo ich nur eines gesehen habe. Je mehr ich sehe, desto mehr wird das Mögliche durch mich wirklich.
Newton saß angeblich unter dem Apfelbaum und bereicherte in dem Moment die Welt mit der Idee der Gravitation. Kann man Inspiration also nicht erzwingen, nur erwarten?
SN:
Inspiration ist die Begegnung von harter Arbeit und glücklichem Zufall. Nichts bewahrt dich vor der Arbeit, über Dinge nachzudenken.
Newton hat lange gegrübelt. Dann plötzlich fiel der Apfel, und mit ihm fiel alles auf den richtigen Platz, machte Sinn. Wenn ich festgefahren bin, heißt Inspiration, was fest ist, wird flüssig. Es heißt, dass ich das darunter liegende Mögliche erkenne.
Ein inspirierendes Gespräch ist eines, da gehe ich raus und denke, ich könnte ganz anders sein, mich vom Leben verändern lassen.
Kann Inspiration, kann der Geist dieses ständige Gefühl aufbrechen, dass man in vielerlei Zwänge eingesperrt ist?
SN:
Menschsein ist eine Schule der Freiheit. Es kostet Mut und Kraft, die ausgetretenen Pfade des Selbstverständlichen zu verlassen. Doch zugleich schenkt uns dieser ewig alte, immer neue Weg eine ganz persönliche Beziehung zum Leben, die eher Tanz ist als Leistungsshow. Mit dem Leben zu tanzen heißt zuhören, antworten und verantworten, mutig und aufrecht, albern und großzügig, herzlich und präzise.
SN:
Güte, Demut, Humor, Großzügigkeit, Geduld, Kreativität und Schlagfertigkeit. Und Urteilskraft: Welche der Möglichkeiten ist ein gangbarer Weg? Eine Formulierung ist: den Dingen gerecht werden. Woran sollen wir uns dafür orientieren? An unserem Sinn für den Sinn, der uns unverlierbar mit dem Lebendigen verbindet. Wie unser Sinn für Gerechtigkeit funktioniert er eher ex negativo: Wir spüren, wenn etwas ungerecht ist, und wir empfinden Störgeräusche – altmodisch: Gewissensbisse –, wenn wir uns selbst oder unsere Mitmenschen verletzten. Oder die Natur, oder die Tiere … Darauf können wir antworten. Das ist die Verantwortung. Aber wir müssen nicht. Das ist die Freiheit.
Was sind die Gaben des Geistes dafür? SN: Was tut not zur Unterscheidung der Geister, um den Dingen gerecht zu werden?
Das Gewissen ist guter Ratgeber. Aristoteles sagt, wenn du ein glücklicher Mensch sein willst, wenn du eine Eudaimonia haben willst, einen guten Geist, dann musst du das Gute tun. Was ist das Gute? So wie ich es verstehe, stärkt das, was wir „Gutes“nennen, die Verbundenheit, schenkt uns Vertrauen, Unschuld, Hoffnung. Aber es lässt den Anderen auch anders sein, es erhöht die Möglichkeiten des Anderen und damit auch die eigenen. Denn wenn wir das Leben nähren, nährt es auch uns.
Die Philosophin Ariadne von Schirach unterrichtet Philosophie und chinesisches Denken an verschiedenen Hochschulen und ist Autorin viel gelesener Bücher wie „Glücksversuche“, „Die psychotische Gesellschaft“, „Du sollst nicht funktionieren“.