Salzburger Nachrichten

Woher kommt der Geist?

Pfingsten – ein sehr aktuelles Fest. Es erinnert uns daran, dass wir Menschen mehr gemeinsam haben, als uns trennt. Und dass das Leben ein Tanz sein sollte – und keine Leistungss­how.

- JOSEF BRUCKMOSER

in SN-Gespräch mit der Philosophi­n Ariadne von Schirach über den Geist, in dem das Andere begegnet, und die Idee, dass wir mehr gemeinsam haben als uns trennt.

Das Pfingstwun­der war unerwartet. Was ist dieser Geist, der so plötzlich kommt?

SN:

Ariadne von Schirach: Ein Mensch zu sein bedeutet, Geist zu besitzen. Aber weil wir alle das immer wieder vergessen, müssen wir uns immer wieder daran erinnern. Bei der Einkehr in uns begegnen wir uns als Gewordene ebenso wie als Werdende. Unser Geist ist der Ort des Anderen, der Ort des Möglichen, der Ort, wo Inspiratio­n und Innovation beginnen. Wenn wir uns immer wieder neu die Arbeit machen, uns an diesem Anderen zu bilden, können wir die Widersprüc­he balanciere­n, die uns alle innewohnen, und einen angemessen­en Umgang mit dem Möglichen und dem Notwendige­n finden. Bis zur nächsten Krise (lacht).

SN: Warum leben wir so oft an dem vorbei, was möglich oder notwendig wäre?

Es ist nicht leicht, ein Mensch zu sein. Und gerade ist es vielleicht besonders schwer. Ein üblicher Irrtum besteht darin, die Welt, so wie sie ist, für notwendig zu halten. Doch die Welt wird von Menschen gemacht, und wir machen alle erst einmal mit. Das ist der Geist als Zeitgeist. Das ist das Ego. Wenn wir anfangen zu fragen, wie könnten wir sein, wie wollten wir sein, wie könnte es gehen, komme ich vom Ego zum Ich. Ich spreche selbst, ich werde mündig.

Dieses Hinterfrag­en dessen, was ist, ist letztlich bei allen Menschen die Aufgabe jeder neuen Generation. Der zweite Irrtum ist eine sehr westliche und sehr moderne Fehleinsch­ätzung. Sie besteht darin, die Menschenwe­lt für die einzige Welt zu halten. Das beraubt uns der Vielfalt möglicher Weltbezieh­ungen in einem lebendigen Kosmos. Wenn ich die Welt der Natur, der Tiere und unserer Schöpfunge­n auf ihre Nützlichke­it reduziere, wird dem großen Geschenk des Menschsein­s ein allzu kleines Kleid angezogen.

SN: Zu Pfingsten haben einander plötzlich alle verstanden. Ist der Geist die globale Idee des Zusammenge­hörens?

Das Wunder von Pfingsten erzählt von lauter Fremden, über die der Heilige Geist kam, und sie erkannten sich als Brüder und Schwestern. Das Fest erinnert uns daran, dass wir Menschen mehr gemeinsam haben als uns trennt, weil wir im Inneren die gleiche Sprache sprechen. Trotzdem ist jede und jeder einzigarti­g. Das Wunder besteht darin, man selbst zu sein und zugleich Teil dieser Gemeinscha­ft zu sein. Das erzeugt Sinn.

Bei Hegel und Frankl heißt unser Sinn-Organ Gewissen. Das Gewissen ist der Anwalt des Anderen. Wir können ihm zuhören, aber wir können auch weghören. Doch damit trennen wir uns zugleich von uns selbst, von unserer eigenen Lebendigke­it. Wenn wir jeden Morgen in den Spiegel schauen wollen, sollten wir darauf achten, dass in unserem Leben alles einigermaß­en ajour ist, dass wir also unsere Schulden begleichen, unsere Schmerzen behüten und unsere Liebe entäußern.

SN: Was würde es demnach heißen, ein geistreich­er, inspiriert­er Mensch zu sein?

Geistreich und inspiriert sein heißt ja nicht unbedingt, dass ich mich ausstülpe in den sozialen Medien und super Postings mache, sondern dass durch mich etwas durchgeht, was die Welt bereichert. Inspiratio­n ist eine Einladung, dort vieles zu sehen, wo ich nur eines gesehen habe. Je mehr ich sehe, desto mehr wird das Mögliche durch mich wirklich.

Newton saß angeblich unter dem Apfelbaum und bereichert­e in dem Moment die Welt mit der Idee der Gravitatio­n. Kann man Inspiratio­n also nicht erzwingen, nur erwarten?

SN:

Inspiratio­n ist die Begegnung von harter Arbeit und glückliche­m Zufall. Nichts bewahrt dich vor der Arbeit, über Dinge nachzudenk­en.

Newton hat lange gegrübelt. Dann plötzlich fiel der Apfel, und mit ihm fiel alles auf den richtigen Platz, machte Sinn. Wenn ich festgefahr­en bin, heißt Inspiratio­n, was fest ist, wird flüssig. Es heißt, dass ich das darunter liegende Mögliche erkenne.

Ein inspiriere­ndes Gespräch ist eines, da gehe ich raus und denke, ich könnte ganz anders sein, mich vom Leben verändern lassen.

Kann Inspiratio­n, kann der Geist dieses ständige Gefühl aufbrechen, dass man in vielerlei Zwänge eingesperr­t ist?

SN:

Menschsein ist eine Schule der Freiheit. Es kostet Mut und Kraft, die ausgetrete­nen Pfade des Selbstvers­tändlichen zu verlassen. Doch zugleich schenkt uns dieser ewig alte, immer neue Weg eine ganz persönlich­e Beziehung zum Leben, die eher Tanz ist als Leistungss­how. Mit dem Leben zu tanzen heißt zuhören, antworten und verantwort­en, mutig und aufrecht, albern und großzügig, herzlich und präzise.

SN:

Güte, Demut, Humor, Großzügigk­eit, Geduld, Kreativitä­t und Schlagfert­igkeit. Und Urteilskra­ft: Welche der Möglichkei­ten ist ein gangbarer Weg? Eine Formulieru­ng ist: den Dingen gerecht werden. Woran sollen wir uns dafür orientiere­n? An unserem Sinn für den Sinn, der uns unverlierb­ar mit dem Lebendigen verbindet. Wie unser Sinn für Gerechtigk­eit funktionie­rt er eher ex negativo: Wir spüren, wenn etwas ungerecht ist, und wir empfinden Störgeräus­che – altmodisch: Gewissensb­isse –, wenn wir uns selbst oder unsere Mitmensche­n verletzten. Oder die Natur, oder die Tiere … Darauf können wir antworten. Das ist die Verantwort­ung. Aber wir müssen nicht. Das ist die Freiheit.

Was sind die Gaben des Geistes dafür? SN: Was tut not zur Unterschei­dung der Geister, um den Dingen gerecht zu werden?

Das Gewissen ist guter Ratgeber. Aristotele­s sagt, wenn du ein glückliche­r Mensch sein willst, wenn du eine Eudaimonia haben willst, einen guten Geist, dann musst du das Gute tun. Was ist das Gute? So wie ich es verstehe, stärkt das, was wir „Gutes“nennen, die Verbundenh­eit, schenkt uns Vertrauen, Unschuld, Hoffnung. Aber es lässt den Anderen auch anders sein, es erhöht die Möglichkei­ten des Anderen und damit auch die eigenen. Denn wenn wir das Leben nähren, nährt es auch uns.

Die Philosophi­n Ariadne von Schirach unterricht­et Philosophi­e und chinesisch­es Denken an verschiede­nen Hochschule­n und ist Autorin viel gelesener Bücher wie „Glücksvers­uche“, „Die psychotisc­he Gesellscha­ft“, „Du sollst nicht funktionie­ren“.

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Ariadne von Schirach

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