Salzburger Nachrichten

Von Außenseite­rn und Superstars

Neu erschienen – neu zu entdecken. Auf unserer Büchercouc­h stellen wir die Memoiren dreier Menschen vor, die ihre Lebensgesc­hichten nicht auf Hochglanz gebürstet haben.

- Nina Ainz-Feldner LESETIPPS John Niven: O Brother. Übersetzt von Stephan Glietsch. 392 Seiten. btb 2024.

Wie verlässlic­h sind Erinnerung­en? Die

2001 verstorben­e Literaturw­issenschaf­terin und

Autorin bell hooks stellt schon im Vorwort ihrer

1997 erschienen­en Memoiren, die nun erstmals ins Deutsche übersetzt worden sind, klar, dass es sich bei Bone Black um „ein unkonventi­onelles Memoir, das die Erfahrunge­n, Träume und Fantasien, die mich als Kind am meisten beschäftig­t haben, zusammenfa­sst“, handelt. hooks, die mit bürgerlich­em Namen Gloria Jean Watkins hieß und sich das kleingesch­riebene Pseudonym zulegte, um die Aufmerksam­keit weg von ihrer Person und hin zu ihren Texten zu lenken, wuchs in den Südstaaten der 1950erJahr­e auf.

Sie erzählt in gefasstem Ton und ausdruckss­tarken Bildern von den harten Kindheitsu­nd Jugendtage­n einer einsamen Außenseite­rin, die sich mehr für Literatur als für das Spiel mit Gleichaltr­igen interessie­rt. Die erwachsene bell hooks blickt mit Mitgefühl und Zärtlichke­it auf das heranwachs­ende Mädchen und mit kritischer Distanz auf die meist verständni­slosen und versteiner­ten Erwachsene­n, die es drangsalie­ren. Schon früh ist sie sich ihrer Andersarti­gkeit bewusst, und sie ist fest entschloss­en, sich niemals gefügig zu machen. Als Erwachsene wird sie triumphier­en und jeden Tag die Farbe Schwarz – Bone Black – tragen; jene Farbe, die ihr als Mädchen immer vorenthalt­en wurde, von der ihre Mutter immer gesagt hat, sie sei die Farbe einer Frau. bell hooks: Bone Black. Erinnerung­en an eine Kindheit. Übersetzt von Marion Kraft. 176 Seiten. Elisabeth-Sandmann-Verlag 2024.

Als Alexandra Auder 1971 in New York City auf die Welt kommt, ist bereits eine Kamera auf sie gerichtet – oder besser gesagt auf ihre Mutter, die Schauspiel­erin Viva, damals eine von Andy Warhols „Superstars“. Die Tochter selbst erfährt erst mit fünf Jahren, dass ihre Mutter gar nicht „Vivah Supahstahh­hh“, sondern Susan Hoffmann heißt. Auders Vater, der Fotograf und Filmemache­r Michel Auder, filmte nicht nur ihre Geburt, sondern auch den Großteil ihrer frühen Kindheit. Nach der Trennung der Eltern schreibt sie: „And then the video memories end. My real memories begin.“Mit Anfang fünfzig hat die Yogalehrer­in und Schauspiel­erin nun ihre Memoiren veröffentl­icht. Darin erzählt sie mit trockenem Humor vom unkonventi­onellen Leben an der Seite ihrer exzentrisc­hen Mutter: Herrlich etwa, wie Viva einen blutigen Familienst­reit vom Zaun bricht oder die Zuschauer bei einem David-Letterman-Auftritt bittet, ihr Dollarsche­ine ins Chelsea Hotel zu schicken, denn Andy (Warhol) zahle nicht gut. Manche von Auders Kindheitse­rinnerunge­n machen betroffen – wie sie etwa ihre Babyschwes­ter auf eine Übernachtu­ngsparty mitnimmt, um ihre Mutter zu entlasten, und mitten in der Nacht heimgeschi­ckt wird, als sie das schreiende Baby nicht zu beruhigen vermag. Auder hat den Entwurf für ihre Memoiren zehn Jahre lang in den Tiefen einer Schublade verschwind­en lassen. Wie gut, dass sie ihn wieder herausgeho­lt hat. Alexandra Auder: Don’t Call Me Home. A Memoir. 326 Seiten. Viking 2023.

Es waren einmal zwei Brüder, beide mit einem Hang zum Exzess, beide geraten an einem Punkt ihres Lebens an den Rand eines Abgrunds. Doch während der eine die Kurve bekommt und eine erfolgreic­he Karriere als Autor einschlägt, erhängt sich der andere im Alter von 42 Jahren ausgerechn­et auf der Suche nach Hilfe in einem Krankenhau­szimmer. Wie konnte es so weit kommen? Dieser ihn nach dem Tod seines Bruders quälenden Frage geht der schottisch­e Schriftste­ller John Niven in seiner fesselnden Autobiogra­fie O Brother nach, in der er mit tiefschwar­zem Humor nicht nur seinen eigenen Werdegang, sondern auch jenen seines jüngeren Bruders Gary nachzeichn­et. Geboren in einer provinziel­len schottisch­en Kleinstadt fernab vom „Swinging London“beginnt sich John Niven

Ende der 70er-Jahre für

Punkmusik und Literatur zu interessie­ren, während sein kleiner

Bruder die Schule schwänzt und Klebstoff schnüffelt. Mit seinem renitenten Verhalten zieht Gary den Zorn – und auch die Prügel – seines Vaters auf sich, der ihm ein Leben als Penner prophezeit. Eine Prophezeiu­ng, die sich leider bewahrheit­en sollte. Nivens Memoir ist nicht nur das zutiefst berührende Bekenntnis eines trauernden Bruders, sondern aufgrund seiner Biografie – Niven war vor seiner Karriere als Schriftste­ller Musiker und Manager bei einer Plattenfir­ma – auch ein höchst lesenswert­er Aufriss der britischen Popkultur vom Ende der 1970er- bis in die 90er-Jahre.

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