Von Außenseitern und Superstars
Neu erschienen – neu zu entdecken. Auf unserer Büchercouch stellen wir die Memoiren dreier Menschen vor, die ihre Lebensgeschichten nicht auf Hochglanz gebürstet haben.
Wie verlässlich sind Erinnerungen? Die
2001 verstorbene Literaturwissenschafterin und
Autorin bell hooks stellt schon im Vorwort ihrer
1997 erschienenen Memoiren, die nun erstmals ins Deutsche übersetzt worden sind, klar, dass es sich bei Bone Black um „ein unkonventionelles Memoir, das die Erfahrungen, Träume und Fantasien, die mich als Kind am meisten beschäftigt haben, zusammenfasst“, handelt. hooks, die mit bürgerlichem Namen Gloria Jean Watkins hieß und sich das kleingeschriebene Pseudonym zulegte, um die Aufmerksamkeit weg von ihrer Person und hin zu ihren Texten zu lenken, wuchs in den Südstaaten der 1950erJahre auf.
Sie erzählt in gefasstem Ton und ausdrucksstarken Bildern von den harten Kindheitsund Jugendtagen einer einsamen Außenseiterin, die sich mehr für Literatur als für das Spiel mit Gleichaltrigen interessiert. Die erwachsene bell hooks blickt mit Mitgefühl und Zärtlichkeit auf das heranwachsende Mädchen und mit kritischer Distanz auf die meist verständnislosen und versteinerten Erwachsenen, die es drangsalieren. Schon früh ist sie sich ihrer Andersartigkeit bewusst, und sie ist fest entschlossen, sich niemals gefügig zu machen. Als Erwachsene wird sie triumphieren und jeden Tag die Farbe Schwarz – Bone Black – tragen; jene Farbe, die ihr als Mädchen immer vorenthalten wurde, von der ihre Mutter immer gesagt hat, sie sei die Farbe einer Frau. bell hooks: Bone Black. Erinnerungen an eine Kindheit. Übersetzt von Marion Kraft. 176 Seiten. Elisabeth-Sandmann-Verlag 2024.
Als Alexandra Auder 1971 in New York City auf die Welt kommt, ist bereits eine Kamera auf sie gerichtet – oder besser gesagt auf ihre Mutter, die Schauspielerin Viva, damals eine von Andy Warhols „Superstars“. Die Tochter selbst erfährt erst mit fünf Jahren, dass ihre Mutter gar nicht „Vivah Supahstahhhh“, sondern Susan Hoffmann heißt. Auders Vater, der Fotograf und Filmemacher Michel Auder, filmte nicht nur ihre Geburt, sondern auch den Großteil ihrer frühen Kindheit. Nach der Trennung der Eltern schreibt sie: „And then the video memories end. My real memories begin.“Mit Anfang fünfzig hat die Yogalehrerin und Schauspielerin nun ihre Memoiren veröffentlicht. Darin erzählt sie mit trockenem Humor vom unkonventionellen Leben an der Seite ihrer exzentrischen Mutter: Herrlich etwa, wie Viva einen blutigen Familienstreit vom Zaun bricht oder die Zuschauer bei einem David-Letterman-Auftritt bittet, ihr Dollarscheine ins Chelsea Hotel zu schicken, denn Andy (Warhol) zahle nicht gut. Manche von Auders Kindheitserinnerungen machen betroffen – wie sie etwa ihre Babyschwester auf eine Übernachtungsparty mitnimmt, um ihre Mutter zu entlasten, und mitten in der Nacht heimgeschickt wird, als sie das schreiende Baby nicht zu beruhigen vermag. Auder hat den Entwurf für ihre Memoiren zehn Jahre lang in den Tiefen einer Schublade verschwinden lassen. Wie gut, dass sie ihn wieder herausgeholt hat. Alexandra Auder: Don’t Call Me Home. A Memoir. 326 Seiten. Viking 2023.
Es waren einmal zwei Brüder, beide mit einem Hang zum Exzess, beide geraten an einem Punkt ihres Lebens an den Rand eines Abgrunds. Doch während der eine die Kurve bekommt und eine erfolgreiche Karriere als Autor einschlägt, erhängt sich der andere im Alter von 42 Jahren ausgerechnet auf der Suche nach Hilfe in einem Krankenhauszimmer. Wie konnte es so weit kommen? Dieser ihn nach dem Tod seines Bruders quälenden Frage geht der schottische Schriftsteller John Niven in seiner fesselnden Autobiografie O Brother nach, in der er mit tiefschwarzem Humor nicht nur seinen eigenen Werdegang, sondern auch jenen seines jüngeren Bruders Gary nachzeichnet. Geboren in einer provinziellen schottischen Kleinstadt fernab vom „Swinging London“beginnt sich John Niven
Ende der 70er-Jahre für
Punkmusik und Literatur zu interessieren, während sein kleiner
Bruder die Schule schwänzt und Klebstoff schnüffelt. Mit seinem renitenten Verhalten zieht Gary den Zorn – und auch die Prügel – seines Vaters auf sich, der ihm ein Leben als Penner prophezeit. Eine Prophezeiung, die sich leider bewahrheiten sollte. Nivens Memoir ist nicht nur das zutiefst berührende Bekenntnis eines trauernden Bruders, sondern aufgrund seiner Biografie – Niven war vor seiner Karriere als Schriftsteller Musiker und Manager bei einer Plattenfirma – auch ein höchst lesenswerter Aufriss der britischen Popkultur vom Ende der 1970er- bis in die 90er-Jahre.