Revolte mit dünner Flamme
Die Wiener Festwochen zeigen am Eröffnungswochenende ein Werk des Exilrussen Kirill Serebrennikov: szenisch stark und musikalisch peinlich.
WIEN. Das Feuer der Revolution ist musikalisch ein dünnes Flämmchen: Der russische Exilregisseur Kirill Serebrennikov verschneidet in der Collage „Barocco“sein theatrales Plädoyer für die Freiheit mit verstümmelter Barockmusik. Wie gut kann Musiktheater funktionieren, wenn der musikalische Teil einen Bauchfleck hinlegt? Großartig, wenn man von der Reaktion des Publikums am Sonntagabend im Burgtheater ausgeht. Der Saal tobte.
Theatral hat die Veranstaltung der Wiener Festwochen, die Intendant Milo Rau vom Hamburger Thalia Theater nach Wien geholt hat, immer wieder starke Szenen. Berührend ist etwa, wenn Serebrennikov Sam Mendes’ legendäre Szene des im Wind tanzenden Sackerls aus „American Beauty“zu einem Duett von Tänzerin und Tüte macht oder der musikalische Spielleiter Daniil Orlov mit der rechten Hand in Handschelle nur mit der Linken Bachs „Chaconne“am Flügel spielt. Mit dieser Sequenz webt der Regisseur politische Bezüge ein, rekurriert er doch auf die auf Video festgehaltene Nawalny-Mitstreiterin
Anastasia Vasilyeva, die weiterhin Klavier spielt, während die Polizei ihre Wohnung durchsucht. Diese kleinen oder großen Akte des Widerstands interessieren Serebrennikov. Das machte es umso erstaunlicher, dass die Urfassung von „Barocco“2018 noch in Russland gespielt wurde, auch wenn Serebrennikov die Uraufführung aus dem Hausarrest begleiten musste.
Das Feuer zieht sich als rotzüngelnder, penetranter Faden durch den Abend. Die Selbstverbrennung Jan Palachs aus Protest gegen die sowjetische Niederschlagung des Prager Frühlings 1969 ist das Menetekel, dessen Symbolik über filmische Zitate wie Andrei Tarkowskis „Nostalghia“fortgeführt wird. So muss die berührende Pianosequenz mit dem im Dunkel der Bühne spielenden Daniil Orlov am Ende mit einem Leinwandfeuer beendet werden, das jeder zweitklassigen Rockband gut zu Gesicht stünde. All das steht mosaikartig wie ein Pasticcio nebeneinander. Wie beim Eurovision Song Contest dominiert „Barocco“ein schneller Wechsel der Tonalitäten ohne dramaturgischen
Zusammenhang – nur ist beim ESC die Zahl der musikalisch peinlichen Nummern geringer.
„Barocco“war eine der Premieren am Eröffnungswochenende der Wiener Festwochen, die am Freitagabend mit einer Show auf dem Rathausplatz gestartet sind. Popacts von Pussy Riot bis Bipolar Feminin und Statements von Elfriede Jelinek bis Carola Rackete beschworen einen Widerstandsgeist, der einen schmalen Grat zwischen Party, Pathos und Parolen nehmen musste.
Von Samstag bis Montag wurde im Volkstheater das „Blutstück“gespielt – nach Kim de l’Horizons „Blutbuch“aus 2022. Regisseurin Leonie Böhm hat – in Kooperation mit dem Schauspielhaus Zürich – einen Abend für fünf Menschen kreiert, die sich in einer Welt aus luftigen Tüchern, Pappmascheesteinen und einem aufblasbaren Penisbaum bewegen: eine ephemere Welt, die stets in sich zusammenfallen könnte. Die Improvisation spielt eine wichtige Rolle, das ist ein Kontrast zum über zehn Jahre hinweg konzipierten Textkondensat des „Blutbuchs“.