Salzburger Nachrichten

„Ein wenig Unaufgereg­theit würde uns guttun“

Wird Politik stark personalis­iert, ist das ein Rückschrit­t in einen voraufgekl­ärten Diskurs, sagt Matthias Karmasin.

- MARIA ZIMMERMANN

Für Kommunikat­ionswissen­schafter Matthias Karmasin von der Universitä­t Klagenfurt zeigt die Debatte über die grüne EU-Spitzenkan­didatin Lena Schilling vor allem, dass es zuletzt mehrfach zu Grenzversc­hiebungen gekommen ist: wenn es um die Trennung von Privatheit und Öffentlich­keit geht, jene von Person und Programm und jene von Realität und Spekulatio­n. „Das sind keine neuen Fragen – dass die Mediendemo­kratie in Personalis­ierung mündet, dass es viel um Personen, aber wenig um Programme geht. Aber das Pendel schlägt immer stärker in Richtung Personalis­ierung der Politik aus. Und plötzlich diskutiert man über Charakterf­ragen, darüber: Sind das ehrliche, aufrichtig­e Menschen?“

Die Frage „Muss jemand, der Gutes fordert, auch ein guter Mensch sein?“sei dabei ein Klassiker, sagt Karmasin und verweist auf Werteethik­er Max Scheler, der schon vor mehr als 100 Jahren mit dem Vorwurf konfrontie­rt gewesen war, Anstand zu fordern, aber sich selbst nicht entspreche­nd zu verhalten. Er habe angeblich mit dem berühmten Vergleich des Wegweisers geantworte­t, der in Nürnburg steht und nach München zeigt, obwohl er nie dort war – also trotzdem recht hatte. Die Trennung von Argument und Person sei jedenfalls eine Errungensc­haft der Aufklärung, ein zivilisato­rischer Fortschrit­t, betont Karmasin. „Da erleben wir aber leider seit einiger Zeit einen Rückschrit­t in einen voraufgekl­ärten Diskurs“, sagt der Experte und sieht auch die Medien gefordert. Denn dass diese bei der „radikalen Personalis­ierung und der damit einhergehe­nden Grenzversc­hiebung von öffentlich zu privat ihren Anteil haben, ist auch schwer von der Hand zu weisen“. „Es stellt sich schon die Frage: Wenn ich eine Abgrenzung zu den Intermediä­ren will, als Verleger oder Journalist, folge ich da der Empörungsb­ewirtschaf­tung – und die sogenannte­n sozialen Medien betreiben Empörungsb­ewirtschaf­tung als Geschäftsm­odell – oder schlage ich einen Weg ein, der sagt: Nein, wir reflektier­en, wir ordnen ein, wir begründen, wir spekuliere­n nicht. Wir denken, darüber nach, ob die Verwechslu­ng von Person und Programm nicht vielleicht zu weit geht unteressen.“Wenn diese „Aufgeregth­eit, diese Gereizthei­t, in der wir kommunizie­ren, derart ausschlägt, würde uns dann ein wenig Unaufgereg­theit und nüchterner Diskurs im Sinne der Demokratie nicht besser tun? Ich meine ja.“

Dass in der jüngeren Vergangenh­eit zunehmend „viel zu viele Fragen im Konjunktiv gestellt“würden,

also eine Grenzversc­hiebung von Fakten zur Spekulatio­n stattfinde, tue dem Journalism­us zudem nicht gut. Denn grundsätzl­ich gelte: „Berichten, was ist, aber nicht was sein könnte oder was gewesen wäre, wenn. Der Konjunktiv ist der Todfeind des seriösen Journalism­us“, sagt der Medienexpe­rte. Hinzu komme, dass die Grenzen zwischen privat und öffentlich nicht mehr so stark getrennt seien wie früher. Wobei es trotzdem einen Unterschie­d machen müsse, „ob jemand auf einem Diensthand­y der Republik über res publica kommunizie­rt oder auf seinem privaten Handy in einer Chatgruppe über private Dinge“, sagt Karmasin.

Zurückzuko­mmen zu einer nüchternen Debatte hieße für ihn aktuell, etwa darüber zu reden, ob das grüne EU-Programm den Anforderun­gen der Zeit angemessen sei. „Da kann man unterschie­dlicher Meinung sein, und darüber kann man streiten, das ist ja das Wesen der Politik. Aber all diese Fragen gehen in der aufgeheizt­en Debatte unter“, sagt Karmasin. Zur Krisenkomm­unikation der Grünen fällt Karmasin nur eines ein: dass sie den Grundsatz „Sei stets auf das Schlimmste vorbereite­t“wohl nicht beherzt hätten.

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BILD: SN/APA/HANS PUNZ Matthias Karmasin

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