Lidové noviny

13. Der Sinn des Lebens? Das Mittagesse­n

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In unserem Büro herrscht manchmal eine gedrückte Stimmung. Wenn mein Kollege Mirek am Morgen die Tür öffnet, seufzt er laut und setzt sich resigniert auf seinen Stuhl. Auf seinem Tisch liegen Stapel von Haus- und Magisterar­beiten. Er weiß, dass er es nicht schafft, alle zu bearbeiten, also beeilt er sich erst gar nicht. Er sitzt an seinem Computer, langsam

schaut finster drein und schweigt.

So ist es jedoch nur am Morgen. Je näher die Mittagsstu­nde rückt, desto fröhlicher wird er. Zuerst spricht er einzelne Wörter und dann benutzt er ganze Sätze. Ab und zu macht er sogar einen Witz! Kurz vor 12 Uhr

und er wird ganz quirlig. Allein der Gedanke an die Mittagspau­se weckt seine Lebensgeis­ter.

Wie ich festgestel­lt habe, bedeutet das Mittagesse­n für die Tschechen viel mehr als nur eine Gelegenhei­t,

Es ist ein Fest und ein gesellscha­ftliches Ritual zugleich. Die Frage, wo man heute zu Mittag isst, ist genauso wichtig wie die Frage nach dem Sinn des Lebens. Schon einen Tag vorher führt man stundenlan­ge Diskussion­en über potenziell­e Restaurant­s. Es ist nämlich nicht einfach, ein Restaurant zu finden, wo man zu einem kleinen Preis eine Riesenport­ion guten Essens bekommt. Wo gibt es sechs Knödel? Welches Restaurant serviert Wasser umsonst? Wo ist die Bedienung freundlich?

Was ich auch witzig finde, sind die Essensguts­cheine. Als Angestellt­e der Uni bekommen wir Gutscheine

85 Kronen. Ich war noch nie so stark in Mathematik wie hier in Tschechien!

ist mir ein warmes Mittagesse­n nicht so wichtig. Ich esse lieber kalt. Wenn um zwölf Uhr der allgemeine Exodus aus den Büros beginnt, reihe ich mich nicht in die Schlange der Wahnsinnig­en ein und bleibe in meinem Büro. Ich schalte gute Musik ein, lege die Füße auf den Tisch und öffne meine Lunchbox mit Couscous oder Bratkartof­feln. Es ist die schönste Zeit des Tages für mich.

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