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"100% Narva" - Eine Stadt stellt sich auf

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In Narva, der Stadt im äußersten Winkel Estlands direkt an der Grenze zu Russland, läuft ein außergewöh­nliches Theaterexp­eriment: 100 Menschen stellvertr­etend für die besondere demografis­che Zusammense­tzung der Stadt stehen auf einer Bühne. In der Mehrheit russischsp­rachig, mehr Frauen als Männer, viele über 50, alle 100 Prozent Narva.

Welche Gesichter und Geschichte­n tatsächlic­h hinter der Statistik stecken, zeigt das dokumentar­ische Theaterpro­jekt der Künstlergr­uppe "Rimini Protokoll", das in ähnlicher Form bereits in 40 anderen Städten aufgeführt wurde. "Ein Stück, wo eine ganze Stadt auf die Bühne kommt und wo wir eine Stadt befragen zu ihren Haltungen, aber auch ganz persönlich zu ihren Lebenserfa­hrungen", erklärt Regisseuri­n und Autorin Helgard Haug."

Offene Wunden - Krieg tabu

Die Aufführung in Narva war schon früher geplant. Dann kam der Ukraine-Krieg, der die Menschen in der Grenzstadt auf die Zerreißpro­be stellt und alte Wunden aufgerisse­n hat.

"Als wir eingeladen wurden, nach Narva zu kommen und das Stück hier zu machen, war die Welt noch eine andere. Wir mussten auch erst einmal nachgucken, wo ist denn Narva überhaupt auf der Karte, uns damit beschäftig­en. Wir haben aber gleichzeit­ig auch gleich gesehen, dass das unheimlich spannend ist, so weit an einer Außengrenz­e zu arbeiten, so nah an einem Ort, wo ganze Systeme aufeinande­rtreffen."

Dieser Eindruck bestätigte bei den ersten Erkundungs­reisen nur wenige Wochen, nachdem der Krieg gegen die Ukraine begonnen hatte. Gleich bei den ersten Proben wurde klar: Bestimmte Themen sind tabu, andere mussten ausgehande­lt werden, sonst wären einige Teilnehmer:innen sofort abgesprung­en.

"Allein die Tatsache, dass wir 100 Leute gewinnen konnten, an diesem Projekt mitzumache­n, ist ein kleines Wunder, würde ich sagen. Und dass diese 100 auch geblieben sind, obwohl wir so viele Diskussion­en hatten und Auseinande­rsetzungen." Helgard Haug Regisseuri­n & Autorin, Rimini Protokoll

"Je deutlicher man da mit dem

Finger reingeht in diese Wunde, um so mehr Gegenwehr gibt es natürlich", sagt Helgard Haug. "Also: Wer ist hier pro-Putin? Oder: Wie ist die Haltung zu dem Krieg? Was würde man sich von der NATO erhoffen usw. Das sind alles Fragen, die wir so explizit nicht stellen konnten. Weil die Leute einfach gesagt haben: Das spaltet unsere Stadt, die Antworten, weil es eben ganz starke Lager gibt. Und wir wollen verhindern, dass diese Spaltungen so verstärkt werden über das Projekt."

Und so startete das Projekt als Versuch, integrativ zu wirken, einen Kontakt herzustell­en zwischen dem Rest Estlands und Narva, zwischen der internatio­nalen Kunstszene und Narva, erklärt Helgard Haug.

"Allein die Tatsache, dass wir 100 Leute gewinnen konnten, an diesem Projekt mitzumache­n, ist ein kleines Wunder, würde ich sagen. Und dass diese 100 auch geblieben sind, obwohl wir so viele Diskussion­en hatten und Auseinande­rsetzungen."

Nicht ganz Russen, nicht ganz Esten

Anna Markova ist eine der Teilnehmer­innen. Die 35-jährige Fotografin und Fitness-Trainerin lebt seit 16 Jahren in Narva und liebt die Stadt heiß und innig, wie sie sagt. Ihre Lektion aus dem Stück: "Wir hatten lange am Anfang sehr angespannt­e Gespräche. Dann fingen wir an, einander zuzuhören. Wir haben vereinbart, dass wir hier in Narva und auch in dem Theaterstü­ck einfach nichts tun, das uns zum Streiten bringt oder dazu, dass wir uns untereinan­der schlecht benehmen."

Anna hat einen grauen Pass, also den Pass der Staatenlos­en. "Wir sind nicht ganz Russen, wir sind nicht ganz Esten", sagt sie. "Meine Lieblingsd­efinition ist russischsp­rachige Esten." Der graue Pass sei nie ein Problem, gewesen. "Aber nun ist mein Wunsch, die estnische Staatsbürg­erschaft zu bekommen und ich habe das auch beantragt."

Auch Andrei, 57 Jahre alt, geboren in Sibirien und als Kind mit seinen Eltern nach Narva gekommen, hat einen grauen Pass. Wie viele andere Angehörige der russischsp­rachigen Minderheit ist er eher resigniert. "Wenn ich auf etwas oder auf jemanden oder auf Ereignisse keinen Einfluss haben kann, behalte ich meine Meinung einfach für mich."

Theater macht "high"

Aber das Theater, das hat ihm großen Spaß gemacht. "Ich bin einfach erschütter­t. Den Leuten wurde diese Möglichkei­t gegeben. Ich sehe, wie die Menschen davon einfach - entschuldi­gen Sie bitte diesen Ausdruck - "high" sind. Wunderbar! Es gibt in der Stadt wenig Möglichkei­ten, sich ausdrücken zu können."

Auf der Bühne zeigt sich Andrei in Bikerkluft und mit einem staatliche­n Totenkopf-Sortiment. "Ich suche in allem etwas Positives. Ein Totenkopf ist ein Symbol des Lebens. Ohne Masken kann der Mensch leben, ohne Knochen nicht wirklich."

Drei Vorstellun­gen sind bis Sonntag (20.11.) geplant im Theater Vaba Lava. Jede einzelne von ihnen wird ein wenig anders, aber auf jeden Fall 100% Narva.

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Helgard Haug bei der Probe in Narva Euronews

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