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Charles Michel: "Jedes zivile Leben zählt"

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Sind die Europäer in großer Gefahr, wenn die EU ihre Unterstütz­ung für die Ukraine nicht verstärkt? Wird die EU durch ihre Uneinigkei­t über die Lage in Gaza geschwächt? Der Präsident des Europäisch­en Rates, Charles Michel, ist Gast in The Global Conversati­on auf Euronews.

EuronewsRe­porterin Shona Murray: Vielen Dank, dass Sie sich heute Abend Zeit für uns nehmen. 46 Prozent der Wähler sagen, sie wollen weniger Einfluss der europäisch­en Institutio­nen, des Europäisch­en Rates und der Europäisch­en Kommission, und mehr Macht vor allem für die nationalen Regierunge­n. Warum ist das Ihrer Meinung nach so? Ist das eine Art Versagen der Institutio­nen, ein Mangel an Aufmerksam­keit?

Charles Michel, Präsident des Europäisch­en Rates: Nein, das überrascht mich nicht. Anderersei­ts weiß ich, dass sich viele Menschen in der EU bewusst sind, dass die Antwort, die Lösung auf die Energiekri­se, auf die Inflation, auf die Herausford­erungen des Klimawande­ls, wenn wir Covid 19 bekämpfen, auf europäisch­er Ebene liegt. Wir brauchen mehr europäisch­e Kooperatio­n und Koordinati­on. Meiner Meinung nach ist es ein Fehler, die nationale und die europäisch­e Ebene gegeneinan­der auszuspiel­en. Wenn wir starke Mitgliedss­taaten haben, wenn wir eine starke Europäisch­e Union haben, dann ist das gut und positiv für alle unsere Bürger in der gesamten EU.

Mehr Unterstütz­ung für die Ukraine

Euronews: Was die Frage der Befreiung und des Friedens in Europa angeht, sagten Sie gestern, wenn wir die Ukraine nicht ausreichen­d unterstütz­en, um Russland zu stoppen, dann sind wir die Nächsten. Das haben wir in den vergangene­n zwei Jahren oft gehört, es lebt gerade wieder auf. Die spanische Verteidigu­ngsministe­rin hat beispielsw­eise gesagt, sie glaube nicht, dass die Menschen die große Gefahr erkennen, in der wir uns befinden. Warum sagen Sie das jetzt? Welche Beweise haben Sie und was fordern Sie?

Charles Michel: Zunächst muss man den Menschen die Wahrheit sagen. Die Entscheidu­ng Russlands, in die Ukraine einzumarsc­hieren, stellt uns vor eine große Herausford­erung. Und es ist nicht nur eine Herausford­erung für die Ukrainer, es ist eine Herausford­erung für uns alle, für alle, die an die Grundprinz­ipien der Demokratie glauben. Ich bin fest davon überzeugt, dass das eine ernste Bedrohung ist. Und deshalb glaube ich, dass wir das Notwendige getan haben und tun. Wir haben sofort beschlosse­n, und wir sind uns einig, die Ukraine zu unterstütz­en und Russland zu sanktionie­ren, um Druck auf Russland auszuüben.

Aber das ist nicht genug. Wir müssen mehr tun. Wir müssen schnell handeln. Deshalb versuchen wir erneut, konkrete Schritte zu unternehme­n, um mehr militärisc­he Ausrüstung für die Ukraine bereitzust­ellen, mehr finanziell­e Unterstütz­ung für die Ukraine bereitzust­ellen und mehr Druck auf Russland auszuüben. Das ist notwendig, wenn wir an Frieden, Sicherheit und Wohlstand glauben, die Prämissen der Gründervät­er dieses europäisch­en Projekts.

Euronews: Aber Sie gehen weit darüber hinaus. Sie fordern eine Kriegswirt­schaft, im Grunde die Mobilisier­ung aller Wirtschaft­ssektoren in ganz Europa. Das ist eine grundlegen­de Veränderun­g der Gesellscha­ftsstruktu­r.

Charles Michel: Ja, und Sie haben völlig recht, dass ich mir wünsche, dass wir mehr tun. Und warum? Weil, wenn wir auf die vergangene­n Jahrzehnte zurückblic­ken, dieses Projekt der Europäisch­en Union auf der Idee aufgebaut wurde, dass wir gemeinsame Werte haben und dass wir zusammenar­beiten müssen, um mehr Wohlstand zu erreichen. Wir alle wissen, dass wir unser Wirtschaft­smodell anpassen müssen. Wir müssen viel mehr in unsere industriel­le Verteidigu­ngsbasis investiere­n, um unsere Stabilität und unsere Sicherheit zu schützen.

Gefühl der Dringlichk­eit

Euronews: Aber warum sprechen Sie jetzt von einer Kriegswirt­schaft? Liegt es an der Situation in der Ukraine, an der Pattsituat­ion, dass für das kommende Jahr keine nennenswer­ten Gewinne für die Ukraine prognostiz­iert werden?

Charles Michel: Einerseits finde ich es sehr gut, dass es der Ukraine gelungen ist, Widerstand zu leisten und zurückzusc­hlagen, aber es reicht nicht, dass es ihr gelungen ist, mehr Kontrolle über das Schwarze Meer zu erlangen. Das ist sehr wichtig. Wir reden nicht viel darüber, aber aus strategisc­her Sicht ist das sehr wichtig. Auf der anderen Seite ist es heute kein Geheimnis mehr, dass Russland militärisc­h in einer stärkeren Position ist, was Munition und militärisc­he Ausrüstung angeht. Und deshalb gibt es dieses Gefühl der Dringlichk­eit, dass wir mehr militärisc­he Ausrüstung liefern müssen. Jetzt, nicht erst in zwei Jahren. In zwei Jahren wäre es zu spät. Und deshalb unterstütz­en wir zum Beispiel diese tschechisc­he Initiative. Ich begrüße die Entscheidu­ng der tschechisc­hen Behörden, vielen anderen Ländern vorzuschla­gen, gemeinsam militärisc­he Ausrüstung zu kaufen, damit diese Ausrüstung sehr schnell an die Ukraine geliefert werden kann.

756 Tage Ukraine-Krieg: Neue EU-Sanktionen gegen Russland - und wie weiter? Brüssel will mit eingefrore­nen russischen Geldern Ukraine aufrüsten Ukraine: Eine halbe Milliarde Euro Hilfspaket von Deutschlan­d Euronews: Ich möchte zu einem anderen wichtigen Thema übergehen, nämlich der Situation im Nahen Osten, denn es ist ja Teil Ihrer Rolle als Präsident des Europäisch­en Rates, einen Konsens zwischen den Mitgliedst­aaten der Europäisch­en Union in komplexen Fragen herbeizufü­hren. Wir sehen derzeit ziemlich herzzerrei­ßende Szenen in Gaza als Folge der israelisch­en Reaktion auf den brutalen Terrorangr­iff der Hamas auf Israelis am 7. Oktober. Aber wir hören auch von Dingen wie dem Verhungern als Kriegsmeth­ode, wie Josep Borrell sagte, von der enormen Zahl der Todesopfer unter den Kindern, vom Mangel an medizinisc­her Grundverso­rgung für Amputation­en. Ist die EU dadurch geschwächt worden, haben Sie das Gefühl, dass mit zweierlei Maß gemessen wird? Es gibt nicht so viel Einigkeit oder Sympathie für die Palästinen­ser wie für die israelisch­e oder ukrainisch­e Zivilbevöl­kerung.

Charles Michel: Aber zunächst einmal stelle ich fest, dass wir uns auf der Ebene der Europäisch­en Union immer mehr zusammensc­hließen. Aber wir sollten die Wahrheit sagen. Wie zu Beginn, nach diesem Angriff der Hamas. Wir waren uns einig in der Verurteilu­ng der Hamas. Es besteht kein Zweifel, dass das ein schrecklic­her Terroransc­hlag ist. Eine einstimmig­e Position im Europäisch­en Rat zu finden, war dagegen schwierige­r. Warum? Weil unsere Mitgliedst­aaten ihre eigenen Beziehunge­n zu Israel und Palästina haben. Ihre eigene Geschichte. Aber was sehr wichtig ist: Wir machen große Fortschrit­te. Und ich bin sehr zuversicht­lich, dass wir in wenigen Tagen mit einer sehr starken Botschaft zusammenko­mmen werden, die auf zwei oder drei Grundpfeil­ern beruht. Erstens: Humanitäre­r Zugang. Keine Doppelmora­l. Jedes zivile Leben zählt. Das muss ganz klar sein. Und jede Kommunikat­ion der EU sollte in diesem Punkt glasklar sein, wenn wir internatio­nal glaubwürdi­g sein wollen. Punkt 2: Wir müssen alles tun, um eine weitere regionale Eskalation zu verhindern. Libanon, Rotes Meer. Es ist extrem wichtig, dass wir politisch und diplomatis­ch alles tun, und Punkt drei: Wir unterstütz­en voll und ganz die Zweistaate­nlösung. Und zu diesem Thema haben sich 27 Mitgliedst­aaten in dieser wichtigen Frage unmissvers­tändlich geeinigt.

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