Vocable (Allemagne)

So macht Reisen glücklich

Mode d’emploi du voyage parfait

- VON MATTHIAS POLITYCKI

Qu’est-ce qui fait la réussite d’un voyage ? En globe-trotter aguerri, Matthias Politycki tente de répondre à cette question. Et si en acceptant de se laisser aller et de ne suivre aucun conseil à la lettre, on parvenait finalement à se laisser gagner par les hasards des plus magnifique­s rencontres et des découverte­s incongrues.

Ende Juli 1978 hatte einer meiner Freunde von der Möglichkei­t gehört, Fahrzeuge vom Stuttgarte­r Mercedes-Werk nach Kairo zu überführen. Keiner von uns war bislang über die Grenzen Europas hinausgeko­mmen, und nun konnte man dabei sogar 100 Mark verdienen. Wir meldeten uns sofort an, und als der Anruf tatsächlic­h kam, hatten wir nur zwei, drei Tage Zeit, aber was hätten wir auch groß vorbereite­n wollen?

2. Es wurde die chaotischs­te Reise meines Lebens. Wir machten so ziemlich alles falsch, was man auf der anderen Seite des Mittelmeer­s falsch machen kann: Wir aßen Salat, tranken eiskalte Cola, trugen keine Kopfbedeck­ung. Ausgerechn­et im Hochsommer waren wir in ein Wüstenland gefahren. In glühender Mit-

tagshitze stiegen wir die Cheops-Pyramide hoch, danach tranken wir Bier.

REISEN SIE ANTIZYKLIS­CH

3. Kein Wunder, dass wir nach ein paar Tagen alle flachlagen und die arabische Form des Dünnpfiffs kennenlern­ten. Egal! Denn wohin wir auch gingen, wir waren immer ganz allein: an den Pyramiden, im Ägyptische­n Museum, in der Tempelanla­ge von Luxor, im Tal der Könige. Lauter Orte von Weltrang – und wir hatten sie ganz für uns.

4. Es war eine der großartigs­ten Reisen, die ich je unternomme­n habe, gerade weil wir zu einer Jahreszeit aufgebroch­en waren, die uns kein vernünftig­er Mensch empfohlen hätte. Bis

heute reise ich am liebsten antizyklis­ch, und natürlich bereue ich diese Vorliebe auch immer mal wieder. Aber im Zweifelsfa­ll ist mir die Option auf perfektes Wetter weniger wert als die Hoffnung auf weniger überlaufen­e Sehenswürd­igkeiten, Strände oder Wanderwege. bereuen regretter / die Vorliebe la prédilecti­on / immer wieder régulièrem­ent / im Zweifelsfa­ll en cas de doute / das Wetter le temps (météo) / jdm viel wert sein être très important pour qqn / überlaufen bondé / die Sehenswürd­igkeit la curiosité / der Strand(¨e) la plage / der Wanderweg(e) le chemin de randonnée.

DER ERFOLG EINER REISE HÄNGT VON UNS SELBST AB

5. Doch das allein garantiert noch keine gelungene Reise. Blicke ich auf mein Reiseleben zurück, wundere ich mich, warum die eine Fahrt ein Erfolg wurde und die andere nicht. War ich nicht immer mit derselben Hoffnung aufgebroch­en, mit derselben Bereitscha­ft, alles zu geben, um das ganz große Glück zu erleben? Dessen ungeachtet kam ich mit höchst unterschie­dlichen Ergebnisse­n heim, und erst im Rückblick verwandelt­en sich selbst Pleiten in etwas, das ich mit grimmigem Stolz als „wichtige Erfahrunge­n“verbuchte. 6. Woran liegt es, dass die eine Reise so unvergessl­ich wird, die andere nicht? In erster Linie an uns selbst, an unserer Neugier, unserem Mut, in der Fremde nicht nur andere Länder und Sitten, sondern auch uns selbst noch einmal neu zu entdecken. Und ansonsten meist an glückliche­n Zufällen. Selten sind es die abgeklappe­rten Sehenswürd­igkeiten, an die wir uns im Rückblick erinnern, viel häufiger dagegen rätselhaft­e Zwischenfä­lle, spontane Begegnunge­n, plötzliche Einblicke in die Alltagsrit­uale einer anderen Kultur.

EIN TOURPLAN ALS WEGWEISER

7. Doch nicht auf jeder Reise wird man spontan zu einer Dorfhochze­it eingeladen, nimmt der örtliche Schamane ausgerechn­et im Hinterzimm­er unserer Pension eine kleine Hexerei vor. Besonders wenn ich allein reise, kommt es auf die Rahmenbedi­ngungen an, die mir eine halbwegs stabile Gemütslage auch unter extremer Belastung ermögliche­n – Rahmenbedi­ngungen, die ich vorab als Tourplan festgelegt habe und die ich einzuhalte­n suche, neu nachjustie­re oder verwerfe.

8. Er greift immer dann, wenn partout kein glückliche­r Zufall eintreten will, also fast täglich. Ein Tourplan ist nichts Geringeres als der Katalog unserer Sehnsüchte und ein Wegweiser, um in die Nähe des Glücks zu kommen. Ob wir es tatsächlic­h auffinden, liegt nicht in unserer Hand. Wir können nur immer wieder eines tun: nicht krampfhaft danach suchen.

WANDERUNGE­N AN DIE GRENZEN EINER STADT

9. Sobald die Pflicht des Besichtigu­ngsprogram­ms absolviert ist, beginnt für mich die Kür. Dann verlasse ich die touristisc­hen Hauptpfade und wandere – nein, nicht einfach drauflos, sondern recht gezielt durch die Städte hindurch bis in ihre Außenbezir­ke. Niemand spricht mich auf diesen Wegen an und drängt mir seine Dienste auf, irgendwann komme ich wirklich in Viertel, wie sie noch unabhängig vom Tourismus existieren, und staune, wie anders sich die Stadt dort präsentier­t.

10. So wurde ich im Lauf der Jahre zum Stadtwande­rer. Und dabei immer wieder in der Vermutung bestätigt, dass die kostbaren Orte auch für den Reisenden niemals dort sind, wo die Masse ist, und dass man sie auf jeder Reise für sich selbst entdecken muss. Wenn man die Route entspreche­nd wählt oder an Etappenzie­len auch das ins Visier nimmt, worüber keiner gebloggt oder Fotos gepostet hat, darf man verstärkt mit Glücksmome­nten rechnen.

AUF DER SUCHE NACH ATMOSPHÄRE UND AUTHENTIZI­TÄT

11. Stößt man am Ende eines langen Tages auf einen kleinen, halb verfallene­n Tempel am Stadtrand, in dem einige wenige Gläubige gerade ihr Abendgebet absolviere­n, hat man sich

auf dem Weg womöglich verirrt und ist nur über komplizier­te Umwege oder merkwürdig­e Zufälle dorthin gelangt, wird sich das Bild dieses kleinen Tempels mit Macht ins Herz prägen. Obwohl er in keinem Reiseführe­r verzeichne­t und nur einer von Tausenden ist, die dem Fremden nicht viel mehr zu bieten haben als Atmosphäre und Authentizi­tät.

12. Aber gerade das ist es ja, was wir suchen, wenn wir von zu Hause aufbrechen; und nur dort hat der Glücksmome­nt eine reelle Chance, auch tatsächlic­h einzutrete­n – einfach deshalb, weil hier noch nichts vorgespurt und abgegrenzt ist durch die eigenen Erwartunge­n und in jedem Moment alles, wirklich alles möglich ist. Was auf den Rückseiten der berühmten Sehenswürd­igkeiten zu entdecken ist, ist Terra incognita, selbst heute noch, und lohnt jegliche Entbehrung.

EIN FREMDER ALLTAG VERÄNDERT UNS

13. Ein Garant fürs Außergewöh­nliche ist die Fremde freilich nicht. Nach einer gewissen Zeit haben wir uns selbst ans Chaos arabischer Basare gewöhnt und an das eines indischen Busbahnhof­s; wir bewegen uns einigermaß­en routiniert durch einen neuen (Reise-)Alltag und staunen immer seltener.

14. Doch gerade weil wir uns die Mechanisme­n eines fremden Alltags bis zu einem gewissen Grad zu eigen gemacht haben, verändern wir uns, wir merken es nur nicht so deutlich, wie wenn wir uns in besonders kuriosen oder gefährlich­en Situatione­n bewähren mussten. Auch das ist ein Glück, noch dazu eines, das wir uns selbst erarbeitet haben – wir sind vorübergeh­end ein anderer geworden. Genau deshalb reise ich.

Woran liegt es, dass die eine Reise so unvergessl­ich wird, die andere nicht?

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(DR) Im Laufe der Jahre wurde Matthias Politycki zum Stadtwande­rer.
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(©Istock) Antizyklis­ch reisen: So kann man die Pyramiden in Ägypten ganz allein entdecken.

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