„Mit Mauern kennen wir Deutschen uns aus“
Les architectes stars du bureau Graft concilient l’inconciliable
Les trois architectes de l’agence d’architecture et de design Graft entendent concilier l’inconciliable pour mieux changer le monde. Entre logements sociaux et appartements de luxe, kiosques solaires en Afrique et hôtels haut de gamme à Dubaï, leur éclectisme leur a valu d’être sélectionnés pour réaliser le pavillon allemand à la Biennale de Venise 2018.
Die „Seezeitlodge“ist das jüngste fertiggestellte Projekt des Berliner Gestaltungsbüros Graft, das Lars Krückeberg gemeinsam mit seinen Partnern Wolfram Putz und Thomas Willemeit verwirklicht hat – und ein Beispiel für das auf den ersten Blick etwas konfuse Konzept der drei Architekten, das sie zu einem der erfolgreichsten Ateliers Deutschlands gemacht hat: Dinge zusammenbringen, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Die für Graft aber zwingend zusammengehören: Provinz und Großstadtarchitekten. Solarenergie für Afrika und Sterne-Hotels. Luxusapartments und Sozialwohnungsprojekte. Die drei haben ein Wiederaufbaukonzept für das überschwemmte New Orleans erarbeitet, mit einem Solarkiosk Dörfern in Afrika eine Lösung für ihr Energieproblem angeboten, preisgekrönte Waschtische entworfen, in Berlin Ökohäuser gebaut, in Georgien ein Hochhaus-Hotel und in Las Vegas Pool-Landschaften. Ihre Handschrift sind geschwungene Linien, Räume, die ineinanderfließen, und Interieurs, die Traumbildern gleichen.
BERLINER POPSTARS DER BRANCHE
2. Gerade gewann Graft die Ausschreibung für die Gestaltung des deutschen Pavillons auf der Architekturbiennale 2018 – die Ausstellung in Venedig ist die wichtigste Bühne der Branche. „Unbuilding Walls“heißt das Projekt, das Graft gemeinsam mit Marianne Birthler erarbeitet, der ehemaligen Leiterin der Stasi-Unterlagen-Behörde: ein architektonisch-politisches Manifest zum Thema Abgrenzung, Macht, Mauerbau, dem Scheitern von Dialog und der Überwindung von Protektionismus. „Mit Mauern kennen wir Deutschen uns ja aus“, sagt Krückeberg, „es ist bedrückend, dass in unserer globalisierten Welt wieder welche entstehen sollen.“ 3. Nächstes Jahr im Februar ist die deutsche Mauer so lange weg wie sie stand. „Diese Zeitengleiche hat uns fasziniert, die Tatsache, wie kurz die innerdeutsche Grenze bestand und wie lang ihr Schatten heute immer noch ist“, sagt Krückeberg. Und weil die drei Westdeutschen einen gesamtdeutschen Blick auf die Mauer abbilden wollten, fragten sie Marianne Birthler, ob sie mitmachen will. „Für uns ist die Biennale eine sehr besondere Aufgabe“, sagt Krückeberg. „So müssen sich Fußball-Nationalspieler fühlen.“Besser könnte es für die Berliner Popstars der Branche gerade nicht laufen.
4. Berlin, Heidestraße, ein nicht sehr repräsentativer Hinterhof, im Erdgeschoss trainieren junge Männer mit Migrationshintergrund und freiem Oberkörper an schwearen Hanteln, nebenan verspricht der Massagesalon „Garden of Eden“einen „liebevollen und vielseitigen Service“. Das Graft-Atelier ist im vierten Stock, das Treppenhaus voller Graffiti, aber hinter der Ateliertür sieht es dann doch so aus, wie man sich ein erfolgreiches Architekturbüro vorstellt: hell, lichtdurchflutet, viele junge Menschen, die an langen Gemeinschaftstischen an ihren Computern ziemlich eng aufeinandersitzen.
5. 55 neue Mitarbeiter wurden allein in den letzten Monaten eingearbeitet, eine weitere Büroetage ist auch schon angemietet, außerdem baut Graft in Berlin-Mitte gerade an einem eigenen Projekt: ein Gebäudekomplex, in dem die Graft-Macher samt Familien direkt neben dem Atelier wohnen. „Für uns ist das eine Rückkehr zu unseren Anfängen“, sagt Putz, „als wir unter den Schreibtischen unseres Büros schliefen.“
EINE ART ARCHITEKTURKOMMUNE
6. Gegründet haben Krückeberg, Putz und Willemeit Graft vor 19 Jahren in Los Angeles – Amerika war schon damals das bessere Land für Unternehmer mit wenig Eigenkapital und einer gesunden Selbstüberschätzung. Sie waren Freunde, bevor sie Geschäftspartner wurden, alle drei Studenten an der Uni Braunschweig, zu einer Zeit, als Skizzen noch mit Bleistift auf Papier gezeichnet wurden, nicht per Mausklick am Computer. Dass sie zusammen in einem Acapella-Chor Jazz gesungen haben – Willemeit ist bis heute nebenbei Violinist und Dirigent –, ist ihre Erklärung dafür, dass die Geschäftspartner auch Freunde blieben: „Wir hören und achten aufeinander“, sagt Willemeit, „auch wenn wir viel diskutieren.“
7. Keiner hat sich spezialisiert, Graft funktioniert als eine Art Architektur-Kommune, in der jeder der Geschäftsführer für alles zuständig ist, keiner wichtiger ist als der andere und alle Entwürfe gemeinsam erarbeitet werden. Wie drei Egos dieses Formats das über knapp 20 Jahre geschafft haben, bleibt Berufsgeheimnis. 30 bis 50 Projekte bespielt Graft auf diese Art und Weise gleichzeitig, weltweit, mit rund 150 Mitarbeitern in drei Büros in Los Angeles, Berlin und Peking. Heute engagiert sich das Büro neben klassischen Auftragsarbeiten auch in selbst initiierten Projekten.
8. Die Visitenkarten hatten sie jedenfalls schon vor ihrem ersten Auftrag, bauten erst Garagen um und dann Villen, über Freunde bekamen sie schließlich Zugang zur Promi-Welt von Hollywood. Putz: „Wir haben gelernt, zuzuhören und Kundenwünsche umzusetzen, von dort aus haben wir aber sehr schnell unseren Blick in die Zukunft gerichtet.“Die kam dann in Gestalt von Brad Pitt. Kurz nach der Bürogründung entwarfen sie für ihn eine Villa in den Hügeln Hollywoods.
9. Die drei sind es einigermaßen leid, dass sie noch immer auf „das Brad-Ding“reduziert werden – auch wenn sie immer noch mit dem Schauspieler und Architektur-Freak befreundet sind. Ihnen dürfte aber auch klar sein, dass keine ihrer innovativen Ideen, sozialen Engagements und spektakulären Bauten ihre Karriere so vorangebracht hat wie dieser Name. Denn auch das ist Architektur: Publicity und Performance.
IDEALISTEN UND PROBLEMLÖSER
10. Und das beherrschen alle drei wie wenige in dieser immer noch sehr kopflastigen Elfenbeinturm-Disziplin, jeder auf seine Weise. Krückeberg mithilfe von massenweise Anglizismen und wilder Fußball-Metaphorik, Willemeit mit dem Feingeist eines Jazz-Musikers, Putz mit der sympathischen Ausstrahlung des Outdoor-Fans, der eigentlich lieber auf dem Kilimandscharo ist als in irgendeinem Gebäude. Jeder der drei kann aus dem Stegreif mitreißende Reden halten über Mauern und „Architecture Activism“, Accessibility und Avantgarde, Impact und Changemaker, soziale Verantwortung, Sustainability, die Chancen der Globalisierung und die Frage, warum Hamburg eine Elbphilharmonie hat und Berlin immer noch keinen Flughafen BER.
11. Das Besondere an Graft: Die meinen das total ernst mit der Weltrettung. Die Schönheit von Architektur steckt für das Gestalter-Trio nicht nur in der Wiedererkennbarkeit ihrer Bauten, sondern vor allem in der Frage, was diese bewirkt. Die kleinen und optisch unspektakulären Solarkioske beispielsweise versorgen heute Tausende Menschen im südlichen Afrika mit Strom und haben 3000 Arbeitsplätze geschaffen. Die Erfahrungen aus dem Katastrophengebiet New Orleans liefern jetzt die Blaupause für bezahlbare Apartments im immer teurer werdenden Berlin. Und auch ein Luxusprojekt wie die „Seezeitlodge“am saarländischen Bostalsee bringt Wirtschaftskraft in eine ziemlich abgelegene Region Deutschlands.
12. Für den Namen ihres Büros ließen sich die Architekten damals vom botanischen Begriff des „Grafting“inspirieren, dem Veredeln von Pflanzen durch das Aufpfropfen zu Hybriden. Der Name ist für die Biennale-Kuratoren noch immer Programm. Das Architektur-Phänomen Graft ist langsam gewachsen – dafür nachhaltig, extrem vielfältig, oft provokant und von sehr eigener Schönheit.
Nächstes Jahr im Februar ist die deutsche Mauer so lange weg wie sie stand.