Im Vorzimmer der Hölle wartet die Utopie
Dans l’antichambre de l’enfer rôde l’utopie
Dans « Paradis », Andrey Konchalovsky nous montre l’enfer des camps de concentration
Une mannequin russe déportée, un fonctionnaire français collabo et un officier allemand, nazi convaincu. Trois destins qui s’entrecroisent au coeur de l’horreur. Dans « Paradis », Andrej Konchalovsky thématise différents niveaux de responsabilité et de cruauté pendant la Deuxième Guerre mondiale : de la banalité du mal jusqu’au fanatisme le plus abject. En salles le 15 novembre.
Ein Stück Seife kann unter Umständen schon den Unterschied zwischen Hölle und Paradies ausmachen. Für die russische Gräfin Olga Kamenskaja, die e si ne inde uts ch es Ver ni ch tungsl age rim Jahr 1944 verschlagen hat, ist es wie eine wundersame Wendung, als sie sich nach einer langen Zeit der Tortur zum ersten Mal wieder waschen kann. Sie wurde erlöst, aus de mS chicksalihrer Lei densge nos sinn en im Block herausgehoben durch einen Zufall. Ein Deutscher hat sie nämlich wiedererkannt, und zwar einer, der als SS-Standartenführer auch etwas zu sagen hat: der Lagerinspektor Helmut von und zu Axenberg. Er lässt Olga als Haushaltshilfe für sich abstellen, weil er sich an einen kostbaren gemeinsamen Moment aus der Vergangenheit erinnert.
2. Italien 1933, Villa Mancini in der Toskana, eine Gruppe schöner und reicher Menschen ohne Ansehen der Nation. Eine erotische Berührung, die vielleicht nur ein Traum war, für den deutschen Aristokraten aber entscheidend, denn diese Olga verkörpert für ihn nicht nur ein Schönheitsideal, sondern auch ein kulturelles Versprechen. Axenberg projiziert auf sie seine Zuneigung zu Russland. Er ist ein Tschechow-Kenner, und an einer Stelle in Andrej Konchalovskys Film „Paradies“sagt er ausdrücklich: „Meine Flucht vor der Realität war die Beschäftigung mit der russischen Literatur.“
DER HOLOCAUST VOR DEM GERICHT EINES KÜNSTLERS
3. Das Klischee des noblen Deutschen, der trotz hehrer Ideale zum Verbrecher wird, erfüllt Axenberg geradezu perfekt. Doch das Bild, das Andrej Konchalovsky sich von den Opfern und Tätern zwischen 1942 (das Jahr, in dem Olga Kamenskaja von französischen Kollaborateuren gefangen genommen wird) und 1944 (das Jahr, indemd as Ver ni ch tungsl age rinhöchs te rNot geräumt werden muss) macht, ist bei aller Neigung zu thesenhaften Figuren doch komplexer.
4. Das beginnt schon mit der zentralen Idee, den Film „Paradies“im Grunde zweimal zu erzählen: einmal auf herkömmliche Weise, in Bildern mit kostümierten Figuren, in einem eleganten Schwarzweiß, das die Schrecken der Kriegsjahre wie aus einer verlorenen Zeit hervorgehen lässt.
5. Auf einer zweiten Ebene ruft Konchalovsky die wichtigsten Figuren zwischendurch immer wieder in den Zeugenstand und lässt sie direkt in die Kamera sprechen und reflektie- ren. Der Holocaust kommt hier vor das Gericht eines Künstlers, der die ganze Sache noch einmal prinzipiell angehen möchte, indem er sich fragt, welcher Geist der Utopie möglicherweise in den Vorzimmern zur Hölle geherrscht haben mag.
HEIMATLIEBE UND EIN BISSCHEN HISTORIKERSTREIT
6. Andrej Konchalovsky hat vermutlich die abenteuerlichste Karriere unter den derzeitigen russischen Filmemachern hinter sich. Sein Weg führte aus der Aufbruchstimmung des frühen Tauwetterkinos in der Sowjetunion in den 1960er Jahren ins Exil und bis nach Hollywood, wo er den Action-Thriller „Runaway Train“, aber auch die entbehrliche Komödie „Tango & Cash“mit Sylvester Stallone verantwortete.
7. Inzwischen ist er wieder zurück in Russland und nimmt dort eine deutlich differenziertere Posit io ne in als sein unverhohlen nat ion alistischerB ru der Nikita Michalkow, der im Grunde Propagandafilme macht. Aber auch Konchalovsky blickt auf die eigene Kultur in einer Weise, die ihm eine slawophile deutsche Hauptfigur mehr oder weniger nahelegt. Axenbergs Liebe zu Tschechow ist nicht zuletzt Ausdruck der Tatsache, dass Konchalovsky selbst sich an dessen Theaterstücken immer wieder versucht hat – seine Filmversion von „Onkel Wanja“hat inzwischen kanonischen Status.
8. In einer merkwürdigen Einstellung tauchen in „Paradies“nun noch einmal Motive auf, die auch beim Ursprung des deutschen Historikerstreits der 1980er Jahre eine zentrale Rolle spielten: Die Frage der Vergleichbarkeit verbrecherischer Systeme ergibt sich als eine Konsequenz
Zwischen Paradies und Hölle liegt ein Abgrund, den nur Menschen in höchster Not ermessen können.
aus dem naiven Geschichtsverständnis von Axenberg, der an einer Stelle meint, die Kommunisten wollten „ein Paradies auf Erden erschaffen – und sind dazu in der Lage“. Das Schicksal hat ihn aber auf die andere Seite gestellt, auf eine Seite, in der Juden als „Parasiten“gelten.
AM ABGRUND ZWISCHEN PARADIES UND HÖLLE
9. „Paradies“wäre vielleicht zu einem schlechten g es chichtspolitis ch enTraktatgeword en, stünde die Figur von Axenberg (gespielt von Christian Clauß) nicht letztendlich ganz und gar im Schatten von Olga, auf deren Erfahrungen – und schließlich auf eine im höchsten Sinn ethische Entscheidung – alles ankommt. 10. Konchalovsky hat diese Rolle mit seiner eigenen Frau besetzt: Yuliya Visotskaya zeigt das gesamte Register des Menschlichen, die Verführungsmacht einer schönen Frau, die noch dem Schergen gegenüber auf dessen lüsterne Instinkte spekulieren kann. Aber dann so fundamental ihrer Humanität beraubt wird, dass sie an einer Stelle sogar gewillt ist, den Unfug von der Herrenrasse anzuerkennen. Es ist eine der stärksten Szenen, denn sie stürzt Helmut in ein Dilemma: Er spürt die Enttäuschung, die darin liegt, dass Olga ihre Würde preisgibt, weil sie nur, indem sie sich in seine Gewalt begibt, eine Chance hat, zu überleben. 11. In diesem im besten Sinn dramatischen Moment kulminiert die ganze eigentümliche Konstruktion des Films und wird dadurch auch erlöst – zwischen Paradies und Hölle liegt ein Abgrund, den nur Menschen in höchster Not, nicht aber mit höchster Macht ermessen können.