„DAS WAR EIN VERLORENES JAHR FÜR DEUTSCHLAND“
“C’était une année perdue pour l’Allemagne”
„Die Antwort auf unsere nationalen Probleme, auf die Krisen ist doch Europa.“
Les Verts ont le vent en poupe outre-Rhin. Après leurs bons résultats aux élections des parlements régionaux de Bavière et de Hesse, les écolos espèrent bien transformer l’essai lors des élections européennes en mai prochain. Robert Habeck, coprésident du parti Die Grünen, nous parle de ses ambitions pour l’avenir de l’Allemagne et de l’Europe.
FOCUS: Die „taz”, das Zentralorgan der Grünen, titelte zu Merkel: „Wir werden uns noch nach ihr sehnen”. Ein netter kleiner Gag — oder doch eine Schlagzeile mit tieferer Wahrheit? Robert Habeck: Frau Merkel ist als Mensch integer. Auf ihre nüchterne Art hat sie sich auch wohltuend von dieser aufgeregten Trump-PutinErdogan-AfD-Welt abgehoben. Da hat sie Maßstäbe gesetzt. Und das wird sicherlich bleiben.
2. FOCUS: War es für sie richtig, auf den Chefposten zu verzichten? Habeck: Der Zustand der großen Koalition ist schon lange kein guter, auch weil die Parteien sich nur mit sich selbst beschäftigen und ihre inneren, ungelösten Konflikte die Regierungs- arbeit lähmen. Frau Merkel lässt die Dinge lange eskalieren und agiert erst dann, wenn es nicht mehr anders geht. So war es 2015 mit den Flüchtlingen aus Ungarn. So war es mit Fukushima. So war es auch jetzt.
3. FOCUS: Kann die große Koalition weitermachen wie bisher? Habeck: Eben nicht. Das Jahr 2018 war ein verlorenes Jahr für Deutschland, für Europa.
4. FOCUS: Stehen Sie bereit für einen zweiten Jamaika-Versuch? Habeck: Es gibt kein Szenario, was darauf hindeutet. Union und SPD regieren. Die CDU wählt ihren Vorsitzenden neu. Keiner sollte sich jetzt Jamaika schönreden. Vor einem Jahr bei den Jamaika-Verhandlungen waren wir zu Kompromissen bis zur Schmerzgrenze bereit, um einen Neuanfang zu wagen. Seitdem ist politisch viel Zeit verloren worden, die jede Regierung aufholen muss. Wir brauchen jetzt noch mehr Neuanfang.
5. FOCUS: FDP-Chef Christian Lindner hat damals den Stecker gezogen, Sie beide scheint eine herzliche Abneigung zu verbinden.
Habeck: Ich komme aus einer Jamaika-Regierung in Schleswig-Holstein. Und die läuft gut, weil alle gewillt sind zusammenzuarbeiten, sich in der Sprache mäßigen und im Kern an einem Strang ziehen. In SchleswigHolstein trägt die FDP Klimaschutz und Energiewende mit.
6. FOCUS: Und im Bund passen Grüne und FDP zusammen wie Topf und Deckel? Das glauben Sie doch selbst nicht. Habeck: Ich habe Christian Lindner so verstanden, dass er kein Interesse am Braunkohleausstieg hat. Dadurch haben wir dann zu viel Strom im Netz, und dadurch wird die ganze Energiewende ins Stocken geraten. Aber das muss er selber vielleicht noch mal geraderücken. Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, was die FDP im Bund eigentlich will und was ihre politische Idee ist, außer dass sie unsere ablehnen.
7. FOCUS: Die Grünen erleben derzeit eine rauschhafte Zeit. Nach dem Wahlsieg in Bayern sind Sie von der Bühne ins Publikum gesprungen. Wie fühlt es sich an, von den Anhängern auf Händen getragen zu werden? Habeck: Das war ein Moment des Übermuts. Wir hatten gewonnen. Wir haben uns gefreut. Fertig.
8. FOCUS: Warum reden Sie das klein? Habeck: Weil jetzt Arbeit und Demut angesagt sind. Ja, wir haben in Bayern und Hessen gesehen, dass es gelingen kann, ein deutliches Zeichen zu setzen, dass Rechtsstaatlichkeit und Liberalität eben auch erfolgreich hochgehalten werden können. Auf einmal streiten wir wieder über Europa, über Umwelt und gestalten optimistische Politik. Das ist ein Ansporn weiterzuarbeiten.
9. FOCUS: Ihr Duzfreund Lindner nennt die neugrüne Politik „cremig”, da schwingt der Vorwurf der Beliebigkeit mit. Habeck: Annalena Baerbock und ich haben als Parteivorsitzende in den vergangenen sechs Monaten einen neuen Grundsatzprogrammprozess angestoßen und einen Europawahlprogrammentwurf vorgelegt. Wir haben als Reaktion auf die Hitzezeit im Sommer eine flächengebundene Landwirtschaft gefordert. Wir haben Kartellrechtsverschärfungen für Facebook gefordert und eine Steuer auf Wegwerfplastik. Wir wollen das Bundesamt für Verfassungsschutz auflösen und neu gründen. Wir haben klargemacht, dass Hartz IV überwunden werden muss. Von all den klimapolitischen Vorschlägen, Kohleausstieg und Verkehrswende ganz zu schweigen.
10. FOCUS: Ihr Therapievorschlag für den Patienten Europa? Habeck: Das gemeinsame Europa, dieses unglaubliche, große Friedensprojekt, ist so gefährdet wie lange nicht. Nur eine europäische Politik hat die Chance, unsere natürlichen Lebensgrundlagen, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und
Sicherheit im 21. Jahrhundert zu wahren. Wir müssen Europa als neuen Raum der Ordnung verstehen. Und zwar als Raum, über den wir politisches Handeln wiederherstellen können.
11. FOCUS: Das ist naiv. Aus dem Ideal eines friedenstiftenden Staatenbunds ist eine Subventionshölle geworden. Habeck: Dem widerspreche ich. Die europäische Einigung ist das Beste, was unserem Kontinent passieren konnte. Aber die EU steckt in einer tiefen Krise. Sie wird durch den immer stärkeren Rechtspopulismus angegriffen und durch den Egoismus und die Ängstlichkeit der nationalen Regierungen geschwächt. Sie trauen sich nicht, die großen Fragen anzugehen. Stattdessen überlassen sie das Primat der Wirtschaft. Aus dieser Spirale von Angst und Lethargie muss Europa jetzt ausbrechen.
12. FOCUS: Wie soll das gehen? Habeck: Die Antwort auf unsere nationalen Probleme, auf die Krisen ist doch Europa. Menschen spüren ja, wie unfair es zugeht und dass internationale Großkonzerne die Regeln bestimmen, sich selbst aber aus jeder gesellschaftlichen Verantwortung rausziehen. Da ist ein ungebändigter Digitalkapitalismus am Werk, der Demokratie und Fairness zuwiderläuft. Wer will den regulieren? Jedes Land für sich allein? Unmöglich. Nur mit einer starken EU können wir diese Welt zivilisieren – Steuerdumping unterbinden, ein eigenes EU-Kartellamt, schärfere Regeln für Facebook, Amazon & Co. 13. FOCUS: Das haben schon viele versprochen. Habeck: Wir wollen der EU auch eine eigene Steuerkompetenz einräumen, damit Unternehmen sich nicht einfach der Beteiligung an der Gemeinwohlfinanzierung entziehen können.
14. FOCUS: Der Umgang mit der Flüchtlingskrise zeigt überdeutlich, dass Europa nicht funktioniert. Habeck: In der Flüchtlingspolitik braucht es einen Neubeginn: Wir brauchen legale Fluchtwege, damit niemand mehr in die Boote steigen muss. Flüchtlinge müssen an den EU-Außengrenzen kontrolliert, registriert und dann in der EU menschenwürdig untergebracht werden. Und anschließend fair verteilt werden. Ich weiß, dass da nicht alle nationalen Regierungen mitmachen. Deshalb sollte die EU die Kommunen, die bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, direkt bei deren Integration finanziell unterstützen. Und so könnte es dann vielleicht sein, dass etwa Polen sagt, wir wollen keinen Verteilungsschlüssel haben, aber Danzig könnte sich bereit erklären, Flüchtlinge aufzunehmen. Dann werden wir ja sehen, ob es nicht danach auch mal eine Nachfrage nach Flüchtlingen gibt.
15. FOCUS: Wie bitte? Habeck: Wissen Sie, von wem ich im bayerischen Wahlkampf auf das Thema Flüchtlinge angesprochen wurde? Von Handwerkern, von Unternehmern, die mir sagten: Ich habe Leute ausgebildet, die ich brauche, weil sonst mein Laden nicht mehr läuft, und jetzt werden sie abgeschoben. Das kann die Politik nicht zulassen. Sie muss bereit sein, etwas zu ändern.
Wir brauchen legale Fluchtwege, damit niemand mehr in die Boote steigen muss.