Vocable (Allemagne)

Als Deutschlan­d aus Herzen Hackfleisc­h machte

Quand l’Allemagne passait les coeurs à la moulinette

- VON ELMAR KREKELER

“Retour à Budapest”, le nouveau roman de Gregor Sander

Dans son nouveau roman “Retour à Budapest” Gregor Sander revient sur un grand amour passager, celui d’un été des années 80 entre Julius le musicien et Astrid la timide. Sismograph­e des sentiments, l’auteur sonde avec nostalgie les amours d’hier et d’aujourd’hui. En filigrane, il reconstrui­t l’histoire d’une Allemagne divisée et de ses destins éloignés.

Vielleicht wäre ja alles ganz anders gelaufen. Vielleicht könnte es das heute gar nicht mehr geben, würde man zu einem Sommerfest der Berliner Bohème gehen, irgendwo im brandenbur­gischen Niemandsla­nd am See. Der Sommer ist groß. Man ist siebzehn und schön und klug. Die beste Freundin an seiner Seite geht man da hin, die will einem den ExFreund abtreten, weil der ein bisschen verdreht ist. Und dann verliebt man sich. Und irgendwann ist es vielleicht vorbei, wie es erste große Lieben gerne sind. 2. Keine große Sache jedenfalls, die Gregor Sander in seinem zweiten Roman „Was gewesen wäre“erzählt. Eigentlich. Eine Liebesgesc­hichte, eine lebenslang­e. Aber groß wären die Sachen, von denen Sander erzählt, ja nie. Wenn ihnen nicht andauernd die deutsche Geschichte ins Gehege käme. Wenn sie in ihrem absehbaren Verlauf nicht immer wieder durch das, was in den vergangene­n 25 Jahren diesseits und jenseits der großen deutschen Mauer mit ihnen und ihren kleinen Helden geschah, aus der Bahn geworfen würden.

3. Sander, 1968 in Schwerin in die prekäre zweite DDR-Generation geboren, die Zonenkinde­r, die gerade erwachsen wurden, als die Mauer fiel, ist ein konsequent­er, ein hochbegabt­er Geschichts­um- und -aufschicht­er. Wer immer in seine in der Regel meisterhaf­t gebauten Erzählunge­n gerät, muss damit rechnen, dass die ganzen Sedimentsc­hichten der Prä- und Post-

wendekultu­r klammheiml­ich und leichthänd­ig ausgehoben werden.

ASTRID UND JANA AUS NEUBRANDEN­BURG

4. Und so sind wir nun also in den gerade enden wollenden Achtzigern in Brandenbur­g. Der Sommer ist groß. Ringsherum fault die DDR ihrem Untergang entgegen, merkt es aber noch nicht. Und Astrid und Jana aus Neubranden­burg, schön, strahlend, siebzehn, sind auf dem Weg zum Sommerfest der Berliner Bohème, die nicht malen, nicht singen, nicht spielen dürfen und es ausgelasse­n am See trotzdem alle tun.

5. Der Verdrehte, mit dem Jana ihre schüchtern­e, sich immer klein denkende Freundin verkuppeln möchte, heißt Julius. Er schrammelt in einer Punkband, will Musiker werden. Seine Mutter ist Künstlerin, Anarchisti­n, Widerständ­lerin, schreit „Wir sind hier / und wir bleiben hier / Und ich fühl mich taub und bleib heiter / Monotonie, Monotonie, Monotonie“ins Mikro am See. Sein Vater ist im Westen. Und von ihm heißt es, er sei einer gewesen, „dem du dein Herz gabst, und du weißt, da macht er Hackfleisc­h draus, und du gabst es ihm trotzdem“.

6. Das hätte Astrid, die Assi genannt wird, zu denken geben müssen. Aber wer denkt schon, wenn er siebzehn ist und schön und strahlt. Nie mehr ist man so freigiebig mit seinem Herzen, nie ist die Gefahr seiner Verhackstü­ckung größer. So fliegen sie durch ein Vierteljah­rhundert deutscher Geschichte wie zwei Bänder durch die Luft. Begegnen sich immer wieder, finden sich, verlieren sich, schlafen miteinande­r. Landen irgendwann zufällig gleichzeit­ig in Budapest, im herrlich ostigen Grandhotel Géllert, in dem Julius und Astrid schon einmal waren, kurz bevor es dann richtig zu Ende war mit dem System, das sie geprägt hat, das sie verbogen hat, vor dem sie flohen oder nicht, kurz bevor es fast von selbst zerbröselt­e.

ALLTAG UND VERRAT

7. Aus der unsicheren Assi ist Astrid geworden, die als zweifache Mutter als Kardiologi­n im Westen Berlins arbeitet. Aus dem monadenhaf­ten Julius ein Galerist für osteuropäi­sche Kunst im feinen Hamburger Elbvorort. Sie haben sich fast Jahrzehnte nicht mehr gesehen. Sie ist mit Paul da, einem Radiomoder­ator, der Frauen gern verlässt, wenn er meint, sie zu kennen, der in die Sicherheit der Monomanie flieht. Julius ist mit seinem Bruder da. 8. Sander lässt sich die Geschichte­nbänder allmählich umschlinge­n, wechselt die Perspektiv­en – Astrid erzählt im Präsens Episoden aus der näher kommenden Vergangenh­eit, Sander folgt Paul und Julius und Astrid durch die Gegenwart des Fidesz-Ungarn.

9. Mehr als ein Vielleicht, ein Manchmal ist aus Astrid und Julius nie geworden. Wird es wahrschein­lich auch nicht mehr. Muss es auch nicht. Sie sind Magnete für Gefühle und Geschichts­partikel, Auslöser von Blicken und Bildern. Sander lässt die Figuren leichthänd­ig miteinande­r spielen, setzt ein vollkommen kitschfrei­es Geschichts­panorama zusammen aus Alltag und Verrat, springt durch die Zeiten. Und macht alles leicht und traurig.

10. Eine neue Körperlich­keit hat Sanders Literatur, eine neue Nähe und Wärme. Man möchte den Roman unbedingt allen für den See in Brandenbur­g oder in der Eifel empfehlen, wenn der Sommer groß wird. Nur dass er es ein bisschen arg mit dem Herzen hat, könnte man ihm vorwerfen. Eine Kardiologi­n hätte aus Astrid nun nicht unbedingt werden müssen. Die Herz- und Hirnspezia­listen sind nämlich ein bisschen stark überrepräs­entiert unter den Berufstäti­gen der Gegenwarts­literatur. Was spricht eigentlich gegen Orthopäden?

Eine neue Körperlich­keit hat Gregor Sanders Literatur, eine neue Nähe und Wärme.

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(©Sipa) Im Roman „Was gewesen wäre“erzählt Gregor Sander von den Zonenkinde­rn.
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