„DU LANDEST IMMER BEI DEINER MUTTER“
“Tu te retrouves toujours chez ta mère”
“Hors de soi” est le premier roman de Sasha Marianna Salzmann. Entre sa protagoniste Ali et son frère jumeau Anton, les contours se brouillent. Le récit saute des bars d’Istanbul à l’Union Soviétique et invente une nouvelle conception du temps et de l’espace. Dans cette interview accordée à la taz, la dramaturge parle de sa conception du monde et de l’identité en mouvement.
taz: Alissa, die Heldin Ihres Romans „Außer sich”, ist in Russland und Deutschland aufgewachsen. Sie erlebt die Gezi-Proteste und den Putschversuch in Istanbul. Waren Sie selbst länger in der Stadt?
Sasha Marianna Salzmann: Ich war seit 2012 regelmäßig in Istanbul. Ich kam mit einem Schreibstipendium. Ich kannte Istanbul und die Türkei nicht. Nach ein paar Wochen habe ich beschlossen, für immer zu bleiben. Später haben mir Shermin Langhoff und Jens Hillje die Leitung des Studios R des Maxim Gorki Theaters in Berlin angeboten. Es war eines dieser Angebote, zu denen man nicht nein sagt. Der Stoff für das Buch formte sich bei meinem ersten Aufenthalt, als ich in die Gezi- Park-Proteste schlitterte. Ich habe vorher noch nie alte Frauen gesehen, die an AnonymousJungs Kekse verteilen. Ich habe noch nie Kemalisten zusammen mit Punk- und Kopftuchmädchen eine Bibliothek einrichten sehen. Das ist eine der demokratischsten Bevölkerungen, die ich je gesehen habe.
2. taz: Dann sind Sie wieder nach Deutschland gegangen. Salzmann: Ich habe Istanbul aber immer vermisst und als meine Wahlheimat verstanden. Ich komme aus Russland, ich war in Israel, aber ich habe mich nirgends so zu Hause gefühlt wie in Istanbul. 2014 bin ich wieder hingegangen. Ich habe in einer Transcommunity in Tarlabaşı gelebt, im Herzen des Konflikts. Es ist der an den Taksimplatz angrenzende Bezirk, der abgerissen wird. Meine Schwestern und meine Brüder haben mir diese Welt gezeigt, die man als Touristin nicht sehen würde. Dann habe ich angefangen, diesen Roman zu schreiben. Ich fing bei Gezi an und endete bei dieser jüdischen Familie, die nach Deutschland kommt.
3. taz: Sie haben Ihrer Heldin Alissa, kurz Ali, eine Einwanderungsgeschichte gegeben, die autobiografisch gefärbt ist. Wie Sie ist sie in Wolgograd geboren, später wandert die Familie nach Deutschland aus.
Salzmann: Und sie hat Locken wie ich, ich spiele damit.
4. taz: Es ist nicht naheliegend, Istanbul mit der Geschichte einer jüdischen Familie aus Russland zu verbinden.
Salzmann: Ich unterrichte politisches Schreiben am Neuen Institut für Dramatisches Schreiben, das ich gemeinsam mit Maxi Obexer gegründet habe. Da sage ich immer: Du hast eine politische Idee. Du weißt, worüber du schreiben möchtest. Aber du musst loslassen. Und am Ende landest du immer bei deiner Mutter.
5. taz: „Außer sich” ist ein intensiver, soghafter, assoziativer, manchmal beinahe psychedelischer Text mit vielen Perspektivwechseln. Von einem Ort zum anderen, auch durch die Zeit. Jemand hat behauptet, die Grammatik dieser Sätze trage Spuren des Russischen. Salzmann: Sie wissen gar nicht, wie oft ich mir diesen Quatsch anhören muss. Ich habe auch schon gehört: Deine Vorbilder sind Südamerikaner, das ist magischer Realismus, das merkt man an deinem Buch. Mein Buch ist wie mein Gesicht – eine Projektionsfläche. Man liest alles Mögliche in dieses Buch rein, das Russische, das Südamerikanische, die französische Philosophie. Was gut ist, denn es heißt, das Buch ist dehnbar genug. Und ich bin eine ausreichend große Projektionsfläche. Leute sagen auch immer etwas über sich, wenn sie über mich oder meine Arbeit sprechen. Für mich ist das eine Art Feldforschung. Sie beobachten mich, ich beobachte sie.
6. taz: Einmal fragt sich Ali, ob sie wirklich die Lebensbeichte ihrer Mutter hören will. Salzmann: Ich glaube, dass die Essenz meines Romans in dem Versuch besteht, eine Erinnerung rekonstruieren zu wollen – und im schmerzhaften Begreifen, dass es keine ganzheitliche Geschichte geben kann in einer Familie. Jedes Familientreffen beweist, dass die Mythen umgeschrieben werden.
7. taz: Das Vakuum, das sich in der Unsicherheit einer gescheiterten Erzählung über sich selbst breitmacht, wird von rechten
Alle müssen sich mit ihren Familiengeschichten beschäftigen.
Ideologien mit dem Glauben an die Institutionen gefüllt: Familie, Kirche, Nation, Volk. Wäre es eine antirassistische Maßnahme, wenn sich alle mit ihren Familiengeschichten beschäftigen würden? Salzmann: Ja, ich unterschreibe das. Beim „Desintegrationskongress“, der im vergangenen Jahr im Studio R stattfand, haben wir unter anderem das gefordert: Alle müssen sich mit ihren Familiengeschichten beschäftigen. Es kann doch nicht sein, dass immer nur Jüdinnen über ihre Vergangenheit befragt werden. Alle sollten nach Hause fahren und mit den Großeltern oder Eltern reden. Das wird keinen Spaß machen, sie werden Geschichten verweigern. Dann fragt man noch mal. Man muss das tun, damit man versteht, dass es keine Familie ohne Migration gegeben hat, ohne Verlust, ohne Scham, ohne politisches und menschliches Versagen. Das kann etwas Einendes sein – zwischen Familienmitgliedern wie unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen.
8. taz: Zentral sind in Ihrer Geschichte die Gewalterfahrungen der Großeltern und Eltern von Alissa, im Kleinen wie im Großen: Missbrauch, arrangierte Ehen, der Überfall auf die Sowjetunion, Stalinismus, Antisemitismus. Es ist eine schonungslose, krasse Geschichte. Salzmann: Wie die Realität der meisten Menschen auf diesem Planeten.
9. taz: Die Männerfiguren in „Außer sich” werden nicht verurteilt. Man versteht, warum sie so sind, wie sie sind. Den patriarchalen Strukturen können auch sie nicht genügen. Salzmann: Ich halte Frauen für viel stärker, lebens- und anpassungsfähiger. Das heißt nicht, dass Frauen die besseren Menschen sind. Sie sind strukturell gezwungen, besser zu funktionieren. Ich bin genderfluid und mehr als Frau sozialisiert, ich weiß nicht, was es heißt, ein Mann zu sein. Aber ich bin nicht so pessimistisch. Wenn ich mir die Generation nach mir anschaue: Für die sind Gender-Debatten nichts Ungewöhnliches mehr. Jungs kommen mit lackierten Fingernägeln in die Schule und werden nicht verprügelt. Wir Queers sind sichtbar, wir sind laut, niemand kann behaupten, es gebe uns nicht. Solange es die Menschheit geben wird, wird es uns geben.