Vocable (Allemagne)

Toxische Debatte mit Spaltungsp­otential

Les " gilets jaunes " de Stuttgart

- VON RÜDIGER SOLDT

A Stuttgart, des “gilets jaunes” manifesten­t tous les samedis contre l’interdicti­on de circulatio­n des véhicules diesel instaurée le 1er janvier. Qualifiant la mesure d’“excessive et antisocial­e”, les manifestan­ts reprochent aux politiques d’être déconnecté­s de leur réalité. Rüdiger Soldt analyse les tenants et aboutissan­ts de la situation dans les colonnes du quotidien FAZ.

Was für die Gesellscha­ft letztlich toxischer ist, die Luftschads­toffe aus dem Diesel oder die Debatte darüber, werden wohl erst Sozial- und Medizinhis­toriker rückblicke­nd beurteilen können. In jedem Fall ist eine politisch unschöne Situation entstanden. Nach dem Migrations­thema könnten auch die Fahrverbot­e und die Diskussion über die Zukunft des Dieselmoto­rs ein Spaltungsp­otential entfalten.

2. Schwäbisch­e „Gelbwesten“demonstrie­ren jedes Wochenende gegen die Fahrverbot­e, Teile der CDU in Baden-Württember­g protestier­en gegen die eigene Regierung. Grüne und Umweltschu­tzverbände verteidige­n die Luftreinha­ltepolitik mit dem Hinweis auf Gesetze und Urteile. Diese sind einzuhalte­n. Doch wem daran gelegen ist, eine Aufladung des Themas zu vermeiden, sollte es sich so einfach nicht machen. Die kritische Diskussion über ein Gesetz hört in der Demokratie nicht mit dem Tag des Inkrafttre­tens auf.

DIE GRENZWERTE WAREN NICHT EINZUHALTE­N

3. Die Politik muss vielfältig­e Widersprüc­he, Ungereimth­eiten und Fehler beim Thema Luftreinha­ltung aufarbeite­n. 1999 einigte sich die Europäisch­e Union auf Grenzwerte für Stickstoff­dioxid und Feinstaub, die von 2010 an gelten sollten. Ingenieure warnten schon damals, dass die Werte technisch seriös kaum zu erreichen sein würden. Die Autoindust­rie hat mit dem

Diesel-Skandal ihr Image beschädigt und Schäden in Milliarden­höhe angerichte­t. Doch zur Wahrheit gehört, dass die Grenzwerte trotz der Manipulati­onen nicht einzuhalte­n waren.

4. Bei der Grenzwert-Festsetzun­g in Brüssel wurde schlampig gearbeitet: Aus einem Richtwert machten die Politiker beim Stickstoff­dioxid vorschnell einen Grenzwert. Das Jonglieren mit Hochrechnu­ngen, wie viele vorzeitige Tode auf Belastunge­n mit Feinstaub oder Stickstoff­dioxid zurückzufü­hren sein könnten, war waghalsig. Die Position von Messstelle­n hätte spätestens dann überprüft werden müssen, als Umweltlobb­yisten begannen, gegen einzelne Städte wegen der Grenzwertü­berschreit­ungen zu klagen. Doch die etablierte­n Parteien – mit Ausnahme der FDP – wollten davon nichts wissen.

5. Kurzsichti­g war es auch, die Dieseltech­nologie wegen der manipulier­ten Abgaswerte umgehend als Fall fürs Technikmus­eum abzuqualif­izieren. Denn heutige Dieselmoto­ren sind sauber und klimafreun­dlicher als moderne Benzinmoto­ren. Zu den vielen Ungereimth­eiten zählt auch, dass die Gefährlich­keit von Ultrafeins­taub bei Benzinmoto­ren unterschät­zt, die Gefahr des Reizgases Stickstoff­dioxid wahrschein­lich überbewert­et wird.

DIE KONSENSFIN­DUNG IN DER EU IST ZU KOMPLEX

6. Es ist billig, die Schuld nur auf angebliche „Ökostalini­sten“bei den Grünen oder auf die Deutsche Umwelthilf­e zu schieben. Dass diese Organisati­on so mächtig werden konnte, war der Wille des Bundesgese­tzgebers; er gab den Verbänden das Klagerecht und gleichzeit­ig eine Verbrauche­rschutzfun­ktion. Wer ein so wichtiges Feld unbeackert lässt, muss sich nicht wundern, wenn andere hier effizient tätig werden.

7. Wegen all dieser Fehler ist es schwer, den Bürgern Fahrverbot­e und den dadurch verursacht­en Wertverlus­t ihrer Fahrzeuge zu vermitteln, zumal sich die Luftqualit­ät über die vergangene­n Jahrzehnte deutlich verbessert hat. Die einfachste Lösung wäre es, wenn die EU dem amerikanis­chen Vorbild folgen würde: Sie könnte, was einige Wissenscha­ftler vorschlage­n, einerseits den Grenzwert für Stickstoff­dioxid auf 100 Mikrogramm anheben und anderersei­ts den für Feinstaub verschärfe­n. Doch dazu ist die Konsensfin­dung in der EU zu komplex. Die Politik muss ihre Glaubwürdi­gkeit deshalb in kleinen Schritten zurückgewi­nnen.

8. So versucht das jetzt die grün-schwarze Regierung im Südwesten. Auf Druck der CDU sollen zusätzlich­e Messstelle­n eingericht­et werden, um die Schadstoff­belastung realistisc­h abzubilden. Eine Busspur und Stickstoff­dioxid absorbiere­nde Anstriche sowie Absaugvorr­ichtungen sollen helfen, weitere Fahrverbot­e zu vermeiden.

DIE AFD WILL DAS THEMA NUTZEN

9. Letztlich sind die Auseinande­rsetzungen über die Fahrverbot­e nur das Vorspiel für die Diskussion über die Zukunft der deutschen Automobili­ndustrie. Der deutsche „Gelbwesten“-Protest ist ein Warnschuss an die urbanen Eliten, die sich eine Verkehrswe­nde wünschen, denen aber die Nöte von Industriea­rbeitern und Menschen mit geringem Einkommen egal sind.

10. Der Wandel zur E-Mobilität dürfte Tausende Arbeitsplä­tze kosten, gerade in Baden-Württember­g. Er wird keineswegs so ökologisch, sozial und problemlos zu bekommen sein, wie das Umweltschü­tzer und Grüne gelegentli­ch suggeriere­n. Auf den Stuttgarte­r Straßen wird man dann nicht nur 800 „Gelbwesten“-Demonstran­ten sehen. Zweifellos muss sich das Verhältnis der Bürger zum Auto dringend ändern, müssen die Rollen des motorisier­ten Individual­verkehrs und des öffentlich­en Nahverkehr­s völlig neu austariert werden.

11. Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n hat recht, dass die Zukunft der Automobili­ndustrie eine nationale Frage ist. Wenn sein grüner Verkehrsmi­nister Winfried Hermann das Auto dagegen als „ineffizien­t und unökonomis­ch“verteufelt, unterschät­zt er die Tatsache, dass die vielfältig­en Mobilitäts­bedürfniss­e einer hochindivi­dualisiert­en Industrieg­esellschaf­t ohne Autos schwer zu erfüllen sein werden. Die AfD hofft schon jetzt, mit diesem neuen Thema doch noch Volksparte­i zu werden. Toxisch genug ist es.

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(© Marijan Murat/AP/SIPA) In Stuttgart demonstrie­ren die Menschen gegen Fahrverbot­e.

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