Vocable (Allemagne)

Auf ins Verderben

Tourisme au coeur du désastre

- VON CHRISTOPHE­R PILTZ

Le " tourisme noir " : immersions historique­s ou voyeurisme macabre ?

Châteaux, plages de sable fin et sentiers de randonnée ne sont pas pour tous synonymes de vacances. Attirés par le lugubre, les adeptes du « tourisme noir » préfèrent visiter prisons, champs de bataille et ruines nucléaires et dormir dans des hôtels où ils peuvent revivre le quotidien des temps de guerre. S’agit-il d’immersions historique­s ou de voyeurisme macabre ? Le Spiegel mène l’enquête.

Und dann kommt er oben an, schnaubend und keuchend. „Das ist wirklich übercool“, sagt Peter Hohenhaus. Neben ihm steht ein junger Mann, Loscha. Er hat Hohenhaus hierhin geführt und fürchtet, dass ihm das Probleme einbringen könnte; seinen richtigen Namen möchte er deshalb nicht veröffentl­icht sehen. „Wir müssen jetzt absolut leise sein“, flüstert er Hohenhaus zu.

2. Die beiden Männer haben an diesem Wintertag im Norden der Ukraine eine Bauruine erklommen, die niemand betreten sollte. Wenige Hundert Meter entfernt steht eine große Industrieh­alle. Schornstei­ne ragen in die Höhe. Darüber wölbt sich eine Kuppel wie ein übergroßer Flugzeugha­ngar. Unter ihr, abgeschirm­t unter einer Stahlkonst­ruktion, mehrere Meter dick, steht Reaktorblo­ck 4 des stillgeleg­ten Atomkraftw­erks Tschernoby­l. Ein Ort des Todes.

3. Am 26. April 1986 explodiert­e nachts bei einer Sicherheit­sübung der Kernreakto­r in Block 4. Radioaktiv­e Partikel strömten in die Atmosphäre. Zwei Menschen starben direkt bei dem Unglück, 29 in den folgenden drei Monaten. Etwa 4000 Menschen werden an den Folgen sterben, so steht es in einem Bericht

Vereinten Nationen. Andere Experten gehen von mehreren Zehntausen­d Opfern aus.

4. Bis heute ist das Gebiet in einem Radius von 30 Kilometern um das ehemalige Kraftwerk gesperrt. Die Wälder und Wiesen abseits der Straßen sind noch immer verstrahlt. Bewaffnete Soldaten bewachen die Zufahrtsst­raßen.

DAS ZIEL DER REISE

5. Bevor Hohenhaus die Zone betreten durfte, gab Loscha ihm einen Zettel mit Regeln, den musste er unterschre­iben. „Zieh Kleidung an, die den Körper maximal abdeckt.“„Keine Bauten oder Pflanzen anfassen.“Und, fett gedruckt: „Keine verlassene­n Häuser oder Industrieg­ebäude betreten.“

6. Daran haben sie sich schon mal nicht gehalten. Auf dem Dach des Reaktorblo­cks 5, der Bauruine, nie fertiggest­ellt nach dem Unglück, wird Hohenhaus in den nächsten Minuten wenig sprechen. Er fotografie­rt.

7. Zwei Tage lang ist er in der Sperrzone unterwegs. Hohenhaus, 55, zeigt dabei eine fast kindliche Freude. Das ist seine Welt, das Morbide, das Vergangene, das Schrecklic­he.

8. „Dark Tourism“heißt diese Art des Reisens. Die Reisenden suchen Orte auf, an denen Schrecklic­hes geschehen ist. Es ist ein Phänomen, das irritiert und irgendwie auch abschreckt, zumindest auf den ersten Blick.

9. Beim Städtetrip auch mal einen Friedhof aufzusuche­n – das machen viele. Auf der Reise eine Gedenkstät­te zu besuchen – nichts spricht dagegen. Doch Menschen wie Peter Hohenhaus reisen anders. Ihnen bedeuten die Schreckens­orte, was anderen die Strände dieser Welt sind: das Ziel der Reise.

10. Die Motive der Menschen, die so reisen, sind unterschie­dlich. Erinnerung­skultur, Geschichts­interesse, manche treibt schlicht die Sensations­gier. Offizielle Statistike­n, wie viele Menschen dem Trend folgen, gibt es nicht. Philip Stone leitet das Institute for Dark Tourism Research an der britischen Universitä­t in Lancashire, seit Jahren forscht er zu dem Thema. „Wir haben uns in der Gesellscha­ft immer weiter vom Tod entfernt, blenden ihn oft aus“, sagt er. „Manche werden sich durch Dark Tourism ihrer eigenen Sterblichk­eit bewusst. Andere suchen die Konfrontat­ion. Viele aber auch nur einfach das Gedenken.»

GESCHICHTS­BEWAHRER

11. Hohenhaus selbst sagt, er sei schon an mehr als 800 Orten in 90 Ländern gewesen. Er kletterte durch Vietcong-Tunnel in Vietnam. War auf Robben Island in Südafrika, am Genozid-Memorial in Jerewan, Armenien. 12. Das kann man zynisch finden, mindestens makaber. Wird hier denn nicht das Leiden gegeneinan­der aufgerechn­et, das Grauen trivialisi­ert? Hohenhaus kennt diese Vorwürfe, er muss sich oft verteidige­n. Er hat eine Internetse­ite, auf der er Berichte über seine Reisen veröffentl­icht. Öffnet man sie, liest man zuerst zeilenweis­e Rechtferti­gung. Er besuche keine Slums, keine Kriegsgebi­ete, betreibe keine Geisterjag­d. Das seien alles falsch verstanden­e Konzepte von Dark Tourism, und die lehne er ab. Er wolle den Begriff rehabiliti­eren.

13. Hohenhaus sagt, es gehe ihm nicht um den billigen Horroreffe­kt. Er sagt: „Es geht um die Aufarbeitu­ng der Geschichte. Um besser verstehen zu können, warum etwas passiert ist. Und diese Schicksale nie zu vergessen.“Gerade die vergangene­n Jahrzehnte seien voll von dunklen Kapiteln, solle man sich denen verschließ­en?

14. So sieht er sich selbst, als einen Geschichts­bewahrer. Und doch bleiben Fragen. Wie sehr ist er ein Freak? Wie sehr ein Bildungsre­isender?

15. In Tschernoby­l ist Hohenhaus zum dritten Mal. Auf der letzten Reise besorgte er sich eine gesonderte Genehmigun­g und besuchder

Heute seien in Tschernoby­l mehr als 70 Tourguides gemeldet, um die 50.000 Touristen kommen jedes Jahr in die Zone.

te einen ehemaligen Kontrollra­um. Er kam dem Unglück so nah, wie er konnte. Das erste Mal war er im Jahr 2006 hier, zusammen mit seiner Frau. Es war ihre Hochzeitsr­eise.

16. Wenige Tage vor dem Aufstieg auf Reaktorblo­ck 5 sitzt Hohenhaus in seiner Wohnung in Wien. Er ist ein Mensch, der das Abseitige mag. Er hat in englischer Linguistik über „Ad-hoc-Wortbildun­g“promoviert und erzählt, er habe jahrelang als Dozent an Universitä­ten gearbeitet. Doch das Feld war zu speziell, der Fokus zu eng. Seit einigen Jahren beschäftig­t er sich fast nur noch mit Dark Tourism. Wieder eine Nische. Geld verdient er damit kaum. Gerade schreibt er an seinem ersten Buch, ein britischer Verlag wolle es veröffentl­ichen, sagt er.

DARK TOURISM IST EIN GESCHÄFT

17. Auf jede Reise bereitet er sich akribisch vor. Leiht sich Bücher aus. Liest Blogs. Tauscht sich mit Reiseleite­rn aus. Bevor er zum ersten Mal nach Tschernoby­l fuhr, besorgte er sich Berichte der Internatio­nalen Atomenergi­ebehörde, Hunderte Seiten Fachsprach­e.

18. Es hat geschneit, als sie in Pripjat ankommen. Früher lebten hier, drei Kilometer entfernt vom Atomkraftw­erk, rund 50.000 Menschen. Die Stadt wurde parallel zum Kraftwerk gebaut, fast aus jeder Familie arbeitete jemand in Tschernoby­l. Heute ragen Birken aus den Fenstern der Plattenbau­ten.

19. Hohenhaus und Loscha, sein Begleiter, halten vor dem ehemaligen Krankenhau­s. Der Haupteinga­ng ist mit Holzplatte­n verbarrika­diert. Durch einen Hintereing­ang treten sie ins Gebäude. Fast alle Räume sind verwüstet. „Das waren meist Vandalen“, sagt Loscha. Die Menschen haben damals Pripjat geordnet verlassen können, mit nur wenigen Koffern Gepäck und der Hoffnung, bald wieder zurückzuke­hren.

20. Ein kleiner Bus mit Touristen fährt vorbei, als sie das Krankenhau­s verlassen. Es ist die dritte Reisegrupp­e, der sie an diesem Tag begegnen. Man sei nur noch selten allein in der Sperrzone unterwegs, sagt Loscha. Vor acht Jahren begann er, als Tourguide zu arbeiten. Als einer von acht Guides. Heute seien in Tschernoby­l mehr als 70 gemeldet, um die 50.000 Touristen kommen jedes Jahr in die Zone. An ihrem Eingang gibt es seit einiger Zeit zwei Souvenirst­ände.

21. Auch Dark Tourism ist ein Geschäft. Hohenhaus erzählt, dass wenige Monate nach dem 11. September 2001 am Ground Zero Schneekuge­ln als Souvenir verkauft wurden, in ihnen die Zwillingst­ürme samt Feuerwehra­utos und Polizeiwag­en.

22. Der dunkle Tourismus hat für ihn aber auch gute Seiten. Geschichte sei für viele etwas Abstraktes, sagt Hohenhaus. Ein Wust aus Namen und Jahreszahl­en. Aber der Schrecken werde deutlich, wenn in New York am Ground Zero ein Lehrer erzähle, wie seine Schule nahe dem World Trade Center evakuiert worden sei. Dann, sagt Hohenhaus, könne man Geschichte besser begreifen.

 ?? (© Pixabay) ?? Manche Touristen suchen im Urlaub nach dem Schlimmste­n: Gefängniss­e, Schlachtfe­lder, Atomruinen.
(© Pixabay) Manche Touristen suchen im Urlaub nach dem Schlimmste­n: Gefängniss­e, Schlachtfe­lder, Atomruinen.
 ?? (Roman Harak / CC BY-SA 2.0) ?? Eine Schule in Pripyat in der Ukraine. Die Stadt liegt in der Nähe des Kernkraftw­erks Tschernoby­l.
(Roman Harak / CC BY-SA 2.0) Eine Schule in Pripyat in der Ukraine. Die Stadt liegt in der Nähe des Kernkraftw­erks Tschernoby­l.

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