Auf ins Verderben
Tourisme au coeur du désastre
Le " tourisme noir " : immersions historiques ou voyeurisme macabre ?
Châteaux, plages de sable fin et sentiers de randonnée ne sont pas pour tous synonymes de vacances. Attirés par le lugubre, les adeptes du « tourisme noir » préfèrent visiter prisons, champs de bataille et ruines nucléaires et dormir dans des hôtels où ils peuvent revivre le quotidien des temps de guerre. S’agit-il d’immersions historiques ou de voyeurisme macabre ? Le Spiegel mène l’enquête.
Und dann kommt er oben an, schnaubend und keuchend. „Das ist wirklich übercool“, sagt Peter Hohenhaus. Neben ihm steht ein junger Mann, Loscha. Er hat Hohenhaus hierhin geführt und fürchtet, dass ihm das Probleme einbringen könnte; seinen richtigen Namen möchte er deshalb nicht veröffentlicht sehen. „Wir müssen jetzt absolut leise sein“, flüstert er Hohenhaus zu.
2. Die beiden Männer haben an diesem Wintertag im Norden der Ukraine eine Bauruine erklommen, die niemand betreten sollte. Wenige Hundert Meter entfernt steht eine große Industriehalle. Schornsteine ragen in die Höhe. Darüber wölbt sich eine Kuppel wie ein übergroßer Flugzeughangar. Unter ihr, abgeschirmt unter einer Stahlkonstruktion, mehrere Meter dick, steht Reaktorblock 4 des stillgelegten Atomkraftwerks Tschernobyl. Ein Ort des Todes.
3. Am 26. April 1986 explodierte nachts bei einer Sicherheitsübung der Kernreaktor in Block 4. Radioaktive Partikel strömten in die Atmosphäre. Zwei Menschen starben direkt bei dem Unglück, 29 in den folgenden drei Monaten. Etwa 4000 Menschen werden an den Folgen sterben, so steht es in einem Bericht
Vereinten Nationen. Andere Experten gehen von mehreren Zehntausend Opfern aus.
4. Bis heute ist das Gebiet in einem Radius von 30 Kilometern um das ehemalige Kraftwerk gesperrt. Die Wälder und Wiesen abseits der Straßen sind noch immer verstrahlt. Bewaffnete Soldaten bewachen die Zufahrtsstraßen.
DAS ZIEL DER REISE
5. Bevor Hohenhaus die Zone betreten durfte, gab Loscha ihm einen Zettel mit Regeln, den musste er unterschreiben. „Zieh Kleidung an, die den Körper maximal abdeckt.“„Keine Bauten oder Pflanzen anfassen.“Und, fett gedruckt: „Keine verlassenen Häuser oder Industriegebäude betreten.“
6. Daran haben sie sich schon mal nicht gehalten. Auf dem Dach des Reaktorblocks 5, der Bauruine, nie fertiggestellt nach dem Unglück, wird Hohenhaus in den nächsten Minuten wenig sprechen. Er fotografiert.
7. Zwei Tage lang ist er in der Sperrzone unterwegs. Hohenhaus, 55, zeigt dabei eine fast kindliche Freude. Das ist seine Welt, das Morbide, das Vergangene, das Schreckliche.
8. „Dark Tourism“heißt diese Art des Reisens. Die Reisenden suchen Orte auf, an denen Schreckliches geschehen ist. Es ist ein Phänomen, das irritiert und irgendwie auch abschreckt, zumindest auf den ersten Blick.
9. Beim Städtetrip auch mal einen Friedhof aufzusuchen – das machen viele. Auf der Reise eine Gedenkstätte zu besuchen – nichts spricht dagegen. Doch Menschen wie Peter Hohenhaus reisen anders. Ihnen bedeuten die Schreckensorte, was anderen die Strände dieser Welt sind: das Ziel der Reise.
10. Die Motive der Menschen, die so reisen, sind unterschiedlich. Erinnerungskultur, Geschichtsinteresse, manche treibt schlicht die Sensationsgier. Offizielle Statistiken, wie viele Menschen dem Trend folgen, gibt es nicht. Philip Stone leitet das Institute for Dark Tourism Research an der britischen Universität in Lancashire, seit Jahren forscht er zu dem Thema. „Wir haben uns in der Gesellschaft immer weiter vom Tod entfernt, blenden ihn oft aus“, sagt er. „Manche werden sich durch Dark Tourism ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst. Andere suchen die Konfrontation. Viele aber auch nur einfach das Gedenken.»
GESCHICHTSBEWAHRER
11. Hohenhaus selbst sagt, er sei schon an mehr als 800 Orten in 90 Ländern gewesen. Er kletterte durch Vietcong-Tunnel in Vietnam. War auf Robben Island in Südafrika, am Genozid-Memorial in Jerewan, Armenien. 12. Das kann man zynisch finden, mindestens makaber. Wird hier denn nicht das Leiden gegeneinander aufgerechnet, das Grauen trivialisiert? Hohenhaus kennt diese Vorwürfe, er muss sich oft verteidigen. Er hat eine Internetseite, auf der er Berichte über seine Reisen veröffentlicht. Öffnet man sie, liest man zuerst zeilenweise Rechtfertigung. Er besuche keine Slums, keine Kriegsgebiete, betreibe keine Geisterjagd. Das seien alles falsch verstandene Konzepte von Dark Tourism, und die lehne er ab. Er wolle den Begriff rehabilitieren.
13. Hohenhaus sagt, es gehe ihm nicht um den billigen Horroreffekt. Er sagt: „Es geht um die Aufarbeitung der Geschichte. Um besser verstehen zu können, warum etwas passiert ist. Und diese Schicksale nie zu vergessen.“Gerade die vergangenen Jahrzehnte seien voll von dunklen Kapiteln, solle man sich denen verschließen?
14. So sieht er sich selbst, als einen Geschichtsbewahrer. Und doch bleiben Fragen. Wie sehr ist er ein Freak? Wie sehr ein Bildungsreisender?
15. In Tschernobyl ist Hohenhaus zum dritten Mal. Auf der letzten Reise besorgte er sich eine gesonderte Genehmigung und besuchder
Heute seien in Tschernobyl mehr als 70 Tourguides gemeldet, um die 50.000 Touristen kommen jedes Jahr in die Zone.
te einen ehemaligen Kontrollraum. Er kam dem Unglück so nah, wie er konnte. Das erste Mal war er im Jahr 2006 hier, zusammen mit seiner Frau. Es war ihre Hochzeitsreise.
16. Wenige Tage vor dem Aufstieg auf Reaktorblock 5 sitzt Hohenhaus in seiner Wohnung in Wien. Er ist ein Mensch, der das Abseitige mag. Er hat in englischer Linguistik über „Ad-hoc-Wortbildung“promoviert und erzählt, er habe jahrelang als Dozent an Universitäten gearbeitet. Doch das Feld war zu speziell, der Fokus zu eng. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich fast nur noch mit Dark Tourism. Wieder eine Nische. Geld verdient er damit kaum. Gerade schreibt er an seinem ersten Buch, ein britischer Verlag wolle es veröffentlichen, sagt er.
DARK TOURISM IST EIN GESCHÄFT
17. Auf jede Reise bereitet er sich akribisch vor. Leiht sich Bücher aus. Liest Blogs. Tauscht sich mit Reiseleitern aus. Bevor er zum ersten Mal nach Tschernobyl fuhr, besorgte er sich Berichte der Internationalen Atomenergiebehörde, Hunderte Seiten Fachsprache.
18. Es hat geschneit, als sie in Pripjat ankommen. Früher lebten hier, drei Kilometer entfernt vom Atomkraftwerk, rund 50.000 Menschen. Die Stadt wurde parallel zum Kraftwerk gebaut, fast aus jeder Familie arbeitete jemand in Tschernobyl. Heute ragen Birken aus den Fenstern der Plattenbauten.
19. Hohenhaus und Loscha, sein Begleiter, halten vor dem ehemaligen Krankenhaus. Der Haupteingang ist mit Holzplatten verbarrikadiert. Durch einen Hintereingang treten sie ins Gebäude. Fast alle Räume sind verwüstet. „Das waren meist Vandalen“, sagt Loscha. Die Menschen haben damals Pripjat geordnet verlassen können, mit nur wenigen Koffern Gepäck und der Hoffnung, bald wieder zurückzukehren.
20. Ein kleiner Bus mit Touristen fährt vorbei, als sie das Krankenhaus verlassen. Es ist die dritte Reisegruppe, der sie an diesem Tag begegnen. Man sei nur noch selten allein in der Sperrzone unterwegs, sagt Loscha. Vor acht Jahren begann er, als Tourguide zu arbeiten. Als einer von acht Guides. Heute seien in Tschernobyl mehr als 70 gemeldet, um die 50.000 Touristen kommen jedes Jahr in die Zone. An ihrem Eingang gibt es seit einiger Zeit zwei Souvenirstände.
21. Auch Dark Tourism ist ein Geschäft. Hohenhaus erzählt, dass wenige Monate nach dem 11. September 2001 am Ground Zero Schneekugeln als Souvenir verkauft wurden, in ihnen die Zwillingstürme samt Feuerwehrautos und Polizeiwagen.
22. Der dunkle Tourismus hat für ihn aber auch gute Seiten. Geschichte sei für viele etwas Abstraktes, sagt Hohenhaus. Ein Wust aus Namen und Jahreszahlen. Aber der Schrecken werde deutlich, wenn in New York am Ground Zero ein Lehrer erzähle, wie seine Schule nahe dem World Trade Center evakuiert worden sei. Dann, sagt Hohenhaus, könne man Geschichte besser begreifen.