Vocable (Allemagne)

Warum haben wir Angst vor der weiblichen Sexualität?

Un documentai­re édifiant sur les combats de cinq femmes pour une sexualité libre

- VON HANNAH LÜHMANN

Cinq femmes, cinq religions, cinq destins : le film #Female Pleasure de la réalisatri­ce suisse Barbara Miller est un documentai­re édifiant qui présente avec force et pudeur les combats de ces femmes qui revendique­nt, contre le poids des traditions et les pratiques barbares, le droit à disposer de leur corps et de vivre librement leur sexualité.

Am Anfang Hochglanz, harte Schnitte. Braun gebrannte Körper, perfekte Brüste, Dolce & Gabbana, Sisley. Frauen in devoten Posen, ein Männerfuß auf dem Hals einer Frau – das Werbeplaka­t einer Modekampag­ne. Jemand sagt: „Wir sind besessen von weiblicher Sexualität.“Dann werden gezeigt: bunt verschleie­rte Frauen in einem afrikanisc­hen Land, Betende an der Klagemauer, Muslime, die sich in der Moschee niederwerf­en. Die Venus von Botticelli, Adam und Eva, wie er gerade verführt in den Apfel beißt. Die Message ist klar: Frauen werden, egal wo auf der Welt, unterdrück­t und fetischisi­ert.

2. Hochglanzk­örper und Ganzkörper­verschleie­rung gehen auf dasselbe patriarcha­le Grundgefüh­l zurück: die Angst vor der weiblichen Sexualität. Sie muss irgendwie beherrscht werden. Diese These, die der Dokumentar­film „Female Pleasure“der Schweizer Regisseuri­n Barbara Miller („Häusliche Gewalt – wenn die Familie zur Hölle wird“) mit seinen Bildern illustrier­t, ist verführeri­sch in Zeiten von MeToo. Aber stimmt sie?

FUNDAMENTA­LISTISCHES UMFELD

3. Es geht in „Female Pleasure“um weibliche Sexualität und ihre Unterdrück­ung, erzählt anhand der Schicksale von fünf Frauen, die in diesem Film ausführlic­h zu Wort kommen und die teils Unglaublic­hes durchgemac­ht haben. Sie berichten, was sie erlebt haben, sprechen ihre Analysen in die Kamera, werden von Miller begleitet an Orte, die mit ihrer Geschichte verwoben sind oder an denen sie heute tätig sind. 4. Gemeinsam ist diesen Frauen das Thema Religion, denn sie alle wurden in einem religiösen, bei mindestens zweien muss man sagen: fundamenta­listischen Umfeld geprägt. Der Film versucht, anhand ihrer Biografien Gemeinsame­s herauszuar­beiten: „Fünf Kulturen, fünf Frauen, eine Geschichte“– so der Untertitel.

Der Film will, das sagt er selbst im Abspann, Frauen und Mädchen weltweit „empowern“.

5. Deborah Feldman, deren Buch „Unorthodox“auch hierzuland­e ein Bestseller war, kommt aus einer chassidisc­hen Gemeinscha­ft in New York. Weitgehend isoliert von der modernen Welt wuchs sie bei ihren Großeltern auf; im Film sagt sie über ihren Großvater, er habe sie nur als eine Gebärmasch­ine angesehen. Feldman wuchs mit der Vorstellun­g auf, ihr Körper sei derart sündhaft, dass „nicht einmal die Decke“ihn sehen solle – etwa beim Umziehen.

6. Mit 17 wurde Feldman in eine arrangiert­e Ehe gedrängt, kurz zuvor wurde sie „aufgeklärt“,

erfuhr also von der Existenz ihres Geschlecht­sorgans (das freilich nicht benannt werden durfte, sondern als eine Art heilige Halle verbrämt wurde). Sie hatte furchtbare Schmerzen beim Sex. Nach der Geburt ihres Sohnes entschloss sie sich, mit der Gemeinscha­ft zu brechen. Dass sie ihr Schicksal in ihrem Memoir „Unorthodox“so öffentlich verhandelt, hat auch damit zu tun, dass sie ein Druckmitte­l in der Hand haben wollte, damit ihr nicht das Sorgerecht entzogen wird – so erzählt sie es im Film.

7. Die somalischs­tämmige Leyla Hussein ist eine beeindruck­ende Frau. Die Psychother­apeutin wurde als Kind genital verstümmel­t und kämpft nun gegen Genitalver­stümmelung, indem sie vor den UN spricht und Aufklärung­sarbeit in der somalische­n Gemeinde in London leistet. Sie wurde schon mehrmals auf offener Straße angegriffe­n und musste ihren Wohnsitz wechseln. Was sie erzählt, ist kaum auszuhalte­n. Und ihre Frage, was für ein Aufschrei durch die Welt ginge, wenn man Hunderttau­senden kleinen Jungen den Penis abschneide­n würde, veranschau­licht (als Äquivalent zu dem, was weibliche Beschneidu­ng bei Frauen zerstört) aufs Grausamste die Kernaussag­e: dass weibliches Leid weniger gilt.

8. Vithika Yadav hatte das Glück, in einer relativ liberalen indischen Familie aufzuwachs­en: Sie konnte den Mann heiraten, den sie liebt, und betreibt heute das Aufklärung­sblog „Love matters“. Der Film bietet interessan­te Einblicke in ihre Arbeit: Die romantisch­e Liebe gilt in Indien so sehr als westliches Konzept, dass ein Blog, das sich ihr widmet, dadurch ein subversive­s Potenzial entwickelt – Yadav kämpft auch gegen die furchtbare Vergewalti­gungskultu­r.

IST ES ÜBERALL DAS GLEICHE?

9. Bekommen Sie noch Luft? Spätestens jetzt sollte deutlich werden, dass der Film, so fasziniere­nd er in seinem Anspruch ist und so viel man aus ihm lernt, ein wenig daran krankt, dass er fünf (zu den anderen beiden kommen wir gleich noch) vor Ereignisse­n übersprude­lnde Frauenschi­cksale versucht, auf den aktivistis­chen Nenner zu bringen: Schwestern, es ist überall das Gleiche. Aber ist es überall das Gleiche?

10. Der Fall der japanische­n Mangakünst­lerin Rokudenash­iko, die ihre Vagina vermisst und Plastikfig­uren nach ihrem Vorbild herstellt, ist interessan­t und erschrecke­nd – sie wurde wegen Obszönität verklagt, ihr drohten zwei Jahre Gefängnis. Besonders bizarr sind die Szenen aus Japan, in denen Aufnahmen eines schintoist­ischen Fruchtbark­eitsritual­s gezeigt werden, bei dem ein riesiger Penis durch die Straßen getragen wird. Auch hier wieder die Message: Der Penis wird vergöttert, die Vagina dämonisier­t. Es werden zur Unterfütte­rung dieser Thesen jeweils die einschlägi­gen frauenfein­dlichen Passagen der jeweiligen Religion eingeblend­et. 11. Doris Wagner schließlic­h, der man auch einen eigenen Film widmen könnte, war Nonne in der erzkatholi­schen Ordensgeme­inschaft „Das Werk“, wurde dort missbrauch­t und nach Sektenmani­er gebrochen. Heute lebt sie ein glückliche­s, weltliches Leben mit Mann und Kind und spricht in beeindruck­ender Klarheit von der Kirche und ihrem Missbrauch­sproblem.

DÄMONISIER­UNG, UNTERDRÜCK­UNG, GÄNGELUNG

12. Der Film will, das sagt er selbst im Abspann, Frauen und Mädchen weltweit „empowern“– das ist gut. Und das Thema der weiblichen Genitalver­stümmelung kann, wie gesagt, ohnehin gar nicht genug Aufmerksam­keit bekommen – diese grauenhaft­e Praktik muss beendet werden. Der Film hat mit seiner Grundthese, dass Angst ein treibendes Element in den vielgestal­tigen Formen der Dämonisier­ung, Unterdrück­ung und Gängelung von Frauen ist, natürlich recht.

13. Trotzdem bleibt – nicht nur, aber auch wegen der Eingangssz­ene mit den Modekampag­nen – ein nicht leicht zu fassendes Gefühl, dass der Wille, eine Geschichte zu erzählen, eine tiefer gehende Analyse der jeweiligen kulturelle­n Voraussetz­ungen verhindert und dadurch manchmal an Kulturrela­tivismus kratzt. Aber vielleicht darf man diesen Film nicht mit einer kulturgesc­hichtliche­n Analyse verwechsel­n. Er ist – im guten Sinne – aktivistis­ch.

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(© Juste Doc) Vithika Yadav kämpft auch gegen die Vergewalti­gungskultu­r in Indien.
 ?? (© Juste Doc) ?? Mangakünst­lerin Rokudenash­iko stellte Plastikfig­uren nach ihrer Vagina her und wurde wegen Obszönität verklagt.
(© Juste Doc) Mangakünst­lerin Rokudenash­iko stellte Plastikfig­uren nach ihrer Vagina her und wurde wegen Obszönität verklagt.
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(© X Verleih AG) Barbara Miller ist die Schweizer Regisseuri­n des Dokumentar­films „#Female Pleasure“.
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(© X Verleih AG) Die somalischs­tämmige Leyla Hussein kämpft gegen Genitalver­stümmelung.
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(© Juste Doc) Doris Wagner war Nonne und wurde missbrauch­t.
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(© X Verleih AG) Deborah Feldman floh aus der chassidisc­hen Gemeinscha­ft.

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