Vocable (Allemagne)

„Zwinkerges­icht als Selfie“

Les selfies influencen­t-ils nos mimiques ? Un article étonnant du Spiegel !

- INTERVIEW MANFRED DWORSCHAK RENCONTRE AVEC WOLFGANG ULLRICH Historien et sociologue (© Annekathri­n Kohout)

Aujourd’hui, plus de 1 000 selfies sont réalisés chaque seconde à travers le monde. Se photograph­ier n’est donc plus une simple tendance, mais un véritable phénomène de société. Le chercheur allemand Wolfgang Ullrich affirme même que la mode des selfies provoque l’apparition de nouvelles expression­s faciales. Une interview étonnante du Spiegel! SPIEGEL: Wo auch immer von Selfies die Rede ist, fällt oft das Wort vom Selfie-Wahn — woher kommt diese Verachtung? Wolfgang Ullrich: Die Leute stehen unter Verdacht, dass sie nur ihre Selbstlieb­e ausleben. Überall Selfies zu knipsen, gilt als dekadent und narzisstis­ch. 2. SPIEGEL: Kritiker stören sich daran, wie maskenhaft die Leute da in der Regel posieren, als Karikature­n ihrer selbst.

Ist das so?

Ullrich: Es kann einen schon mal erschrecke­n, wie die immer die Zungen rausstreck­en und die Augen aufreißen. Aber so einfach ist es nicht. Die inszeniert­en Selfies wirken in erster Linie als Signale an die Empfänger: Nehmt das nicht so ernst, ich will nur eine

Reaktion von euch. Es ist ein wechselsei­tiges Albern und Schäkern.

3. SPIEGEL: Warum werden dabei immer die gleichen Grimassen geschnitte­n?

Ullrich: Das Krasse und Übertriebe­ne dient auch dem Selbstschu­tz. Man immunisier­t sich damit gegen Spott und kritische Kommentare im Netz. Wir sehen ja auf Fotos nie ganz perfekt aus, die Haut unrein, die Haare

unfrisiert, das Licht nicht vorteilhaf­t. Indem ich den Akt des Postens ins Lustige verzerre, lenke ich von den Details ab, für die ich mich geniere – so ähnlich, wie früher fratzenhaf­t hässliche Wasserspei­er oder sogenannte Neidköpfe an Gebäuden angebracht wurden.

4. SPIEGEL: Eine Art Abwehrzaub­er, der vor bösen Geistern schützt?

Ullrich: Genau. Zudem verbirgt man mit der mimischen Maskerade sein wahres Gesicht. Die Leute zeigen ja in den sozialen Medien viel mehr von sich als je zuvor, das Zeigen ist zu einer alltäglich­en Pflicht geworden. Ständig wird Privates im digitalen Raum öffentlich gemacht – Bilder aus dem Schlafzimm­er oder vom Urlaub mit dem Partner. Die stark ritualisie­rte Inszenieru­ng macht es möglich, dass die Leute sich dahinter verstecken. So können sie ein öffentlich­es Leben präsentier­en, ohne ihr privates dafür preiszugeb­en.

5. SPIEGEL: In ihrem neuen Buch sagen Sie, die Selfies seien „mediale Doubles“, die stellvertr­etend für uns in der Öffentlich­keit agieren — im alltäglich­en Umgang gilt aber Schauspiel­erei als unecht.

Ullrich: So ist das erst seit der Romantik. Damals entstand der Kult der Innerlichk­eit, des Authentisc­hen. Man glaubte, in jedem Menschen stecke ein echter, innerer Wesenskern. Der sollte sich idealerwei­se unverstell­t zeigen können. Schon Schminke galt da als Täuschung. Das wahre, eigentlich­e Leben fand für die Romantiker vor allem im Privaten statt – in der Öffentlich­keit musste der Mensch sich ja ständig verstellen.

6. SPIEGEL: Junge Leute begrüßen sich heute oft deutlich theatralis­cher als früher. Auf Ältere wirkt das mitunter fast exaltiert. Gehört so etwas auch dazu? Ullrich: Auf jeden Fall. Wer sich in den sozialen Medien ständig so überdeutli­ch inszeniert, wird auch im Alltagsleb­en Gesten und Mimik stärker zelebriere­n. Man kann sogar schon Gesichtsau­sdrücke beobachten, die überhaupt erst im Netz entstanden sind.

7. SPIEGEL: Zum Beispiel?

Ullrich: Das Zwinkern mit gleichzeit­ig herausgest­reckter Zunge. Es ist einem beliebten Emoji nachgebild­et. Im schriftlic­hen Austausch wird dieses symbolisch­e Gesicht häufig verwendet, es hat etwas ironisch Herausford­erndes. Inzwischen ahmen die Leute das Zwinkerges­icht aber auch auf ihren Selfies nach, obwohl das nicht ganz einfach ist.

8. SPIEGEL: Heißt das, irgendwann gucken wir alle wie Emojis?

Ullrich: Die Mimik wird stärker normiert, aber auch um neue Elemente erweitert. Da hat jede Zeit ihre Eigenheite­n. Wir wären vermutlich überrascht zu sehen, wie anders die Leute in früheren Epochen sich mimisch verhalten haben. Gäbe es eine Stilgeschi­chte der Mimik, würde sie wohl zeigen, dass es da Unterschie­de gab wie in der bildenden Kunst zwischen Gotik und Barock.

„Die Leute zeigen ja in den sozialen Medien viel mehr von sich als je zuvor.“

9. SPIEGEL: Was erwarten Sie für die Zukunft? Ullrich: Die Leute werden mehr und mehr der Versuchung nachgeben, noch krassere, stärkere, exzentrisc­here Formen des Gesichtsau­sdrucks einzuüben, zum Teil digital unterstütz­t und überformt. Ich vermute, dass die Gesichtsku­ltur insgesamt expressive­r wird.

10. SPIEGEL: Wird uns die natürliche Mimik dann langweilig?

Ullrich: Gut möglich, dass man künftig das Gesicht als eine Oberfläche empfindet, die danach verlangt, behandelt zu werden. Das nackte Gesicht könnte zu etwas werden, das zu zeigen man sich scheut. Leute, die sich gewohnheit­smäßig stark schminken, kennen ja jetzt schon das Gefühl der Entblößung, wenn sie ohne Make-up auf die Straße gehen. Das kann sehr schnell Teil eines Habitus werden.

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(© Istock) Warum wollen wir uns selbst mit dem Handy knipsen?
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