„Zwinkergesicht als Selfie“
Les selfies influencent-ils nos mimiques ? Un article étonnant du Spiegel !
Aujourd’hui, plus de 1 000 selfies sont réalisés chaque seconde à travers le monde. Se photographier n’est donc plus une simple tendance, mais un véritable phénomène de société. Le chercheur allemand Wolfgang Ullrich affirme même que la mode des selfies provoque l’apparition de nouvelles expressions faciales. Une interview étonnante du Spiegel! SPIEGEL: Wo auch immer von Selfies die Rede ist, fällt oft das Wort vom Selfie-Wahn — woher kommt diese Verachtung? Wolfgang Ullrich: Die Leute stehen unter Verdacht, dass sie nur ihre Selbstliebe ausleben. Überall Selfies zu knipsen, gilt als dekadent und narzisstisch. 2. SPIEGEL: Kritiker stören sich daran, wie maskenhaft die Leute da in der Regel posieren, als Karikaturen ihrer selbst.
Ist das so?
Ullrich: Es kann einen schon mal erschrecken, wie die immer die Zungen rausstrecken und die Augen aufreißen. Aber so einfach ist es nicht. Die inszenierten Selfies wirken in erster Linie als Signale an die Empfänger: Nehmt das nicht so ernst, ich will nur eine
Reaktion von euch. Es ist ein wechselseitiges Albern und Schäkern.
3. SPIEGEL: Warum werden dabei immer die gleichen Grimassen geschnitten?
Ullrich: Das Krasse und Übertriebene dient auch dem Selbstschutz. Man immunisiert sich damit gegen Spott und kritische Kommentare im Netz. Wir sehen ja auf Fotos nie ganz perfekt aus, die Haut unrein, die Haare
unfrisiert, das Licht nicht vorteilhaft. Indem ich den Akt des Postens ins Lustige verzerre, lenke ich von den Details ab, für die ich mich geniere – so ähnlich, wie früher fratzenhaft hässliche Wasserspeier oder sogenannte Neidköpfe an Gebäuden angebracht wurden.
4. SPIEGEL: Eine Art Abwehrzauber, der vor bösen Geistern schützt?
Ullrich: Genau. Zudem verbirgt man mit der mimischen Maskerade sein wahres Gesicht. Die Leute zeigen ja in den sozialen Medien viel mehr von sich als je zuvor, das Zeigen ist zu einer alltäglichen Pflicht geworden. Ständig wird Privates im digitalen Raum öffentlich gemacht – Bilder aus dem Schlafzimmer oder vom Urlaub mit dem Partner. Die stark ritualisierte Inszenierung macht es möglich, dass die Leute sich dahinter verstecken. So können sie ein öffentliches Leben präsentieren, ohne ihr privates dafür preiszugeben.
5. SPIEGEL: In ihrem neuen Buch sagen Sie, die Selfies seien „mediale Doubles“, die stellvertretend für uns in der Öffentlichkeit agieren — im alltäglichen Umgang gilt aber Schauspielerei als unecht.
Ullrich: So ist das erst seit der Romantik. Damals entstand der Kult der Innerlichkeit, des Authentischen. Man glaubte, in jedem Menschen stecke ein echter, innerer Wesenskern. Der sollte sich idealerweise unverstellt zeigen können. Schon Schminke galt da als Täuschung. Das wahre, eigentliche Leben fand für die Romantiker vor allem im Privaten statt – in der Öffentlichkeit musste der Mensch sich ja ständig verstellen.
6. SPIEGEL: Junge Leute begrüßen sich heute oft deutlich theatralischer als früher. Auf Ältere wirkt das mitunter fast exaltiert. Gehört so etwas auch dazu? Ullrich: Auf jeden Fall. Wer sich in den sozialen Medien ständig so überdeutlich inszeniert, wird auch im Alltagsleben Gesten und Mimik stärker zelebrieren. Man kann sogar schon Gesichtsausdrücke beobachten, die überhaupt erst im Netz entstanden sind.
7. SPIEGEL: Zum Beispiel?
Ullrich: Das Zwinkern mit gleichzeitig herausgestreckter Zunge. Es ist einem beliebten Emoji nachgebildet. Im schriftlichen Austausch wird dieses symbolische Gesicht häufig verwendet, es hat etwas ironisch Herausforderndes. Inzwischen ahmen die Leute das Zwinkergesicht aber auch auf ihren Selfies nach, obwohl das nicht ganz einfach ist.
8. SPIEGEL: Heißt das, irgendwann gucken wir alle wie Emojis?
Ullrich: Die Mimik wird stärker normiert, aber auch um neue Elemente erweitert. Da hat jede Zeit ihre Eigenheiten. Wir wären vermutlich überrascht zu sehen, wie anders die Leute in früheren Epochen sich mimisch verhalten haben. Gäbe es eine Stilgeschichte der Mimik, würde sie wohl zeigen, dass es da Unterschiede gab wie in der bildenden Kunst zwischen Gotik und Barock.
„Die Leute zeigen ja in den sozialen Medien viel mehr von sich als je zuvor.“
9. SPIEGEL: Was erwarten Sie für die Zukunft? Ullrich: Die Leute werden mehr und mehr der Versuchung nachgeben, noch krassere, stärkere, exzentrischere Formen des Gesichtsausdrucks einzuüben, zum Teil digital unterstützt und überformt. Ich vermute, dass die Gesichtskultur insgesamt expressiver wird.
10. SPIEGEL: Wird uns die natürliche Mimik dann langweilig?
Ullrich: Gut möglich, dass man künftig das Gesicht als eine Oberfläche empfindet, die danach verlangt, behandelt zu werden. Das nackte Gesicht könnte zu etwas werden, das zu zeigen man sich scheut. Leute, die sich gewohnheitsmäßig stark schminken, kennen ja jetzt schon das Gefühl der Entblößung, wenn sie ohne Make-up auf die Straße gehen. Das kann sehr schnell Teil eines Habitus werden.