Vocable (Allemagne)

Warum Scham so wichtig ist

Pourquoi la honte est-elle si importante ?

- DANIEL HELL psychiatre suisse

La honte, un sentiment désagréabl­e, mais utile.

Il n’existe guère de sentiment plus intense et désagréabl­e que la honte. Mais c’est un sentiment utile qu’il ne faut pas tenter d’éliminer, nous dit le psychiatre Daniel Hell, auteur du livre Lob der Scham (Eloge de la honte). En revanche, iI s’agit de combattre l’humiliatio­n.

FAZ: Herr Hell, wann haben Sie sich zuletzt geschämt?

Daniel Hell: Erst neulich, da habe ich einen Geburtstag vergessen und jemandem nicht gratuliert. Es wäre mir wichtig gewesen, das

zu tun, es entspricht meinen Wertvorste­llungen, aber ich habe es verpasst: Da habe ich mich geschämt.

2. FAZ: Sie sind 75 Jahre alt. Schämen Sie sich seltener als früher?

Hell: Ich schäme mich heute für Anderes, weniger für gesellscha­ftliche Normbrüche

und mehr für persönlich­e Ungereimth­eiten. Aber es ist schon so, dass sich Menschen in verschiede­nen Lebensalte­rn unterschie­dlich stark schämen. Als Kind schämt man sich besonders intensiv, auch die Pubertät ist eine heikle Zeit. Aber auch ältere Menschen schämen sich, etwa, weil sie mit Jüngeren nicht mehr mithalten können, Falten bekommen, nicht mehr diejenigen sind, die sie mal waren.

3. FAZ: Sie haben ein Buch mit dem Titel „Lob der Scham“geschriebe­n. Was ist zu loben an einem so unangenehm­en Gefühl?

Hell: Scham alarmiert und schützt, wenn unser Selbst in Gefahr ist. Wir schämen uns, wenn wir unsere eigenen Werte missachten – oder die allgemeine­n Werte der Gesellscha­ft, in der wir leben. Wie wichtig Scham ist, bemerken wir vor allem dann, wenn sie fehlt, wenn sich jemand schamlos, unverschäm­t verhält. Scham ist ein Bote, der uns wie ein Sensor darauf aufmerksam macht, dass wir an Selbstacht­ung und auch an Achtung Anderer verlieren. Wenn wir sie ernst nehmen, kann die Scham dazu dienen, uns in Zukunft so zu verhalten, dass wir uns nicht mehr schämen müssen.

4. FAZ: Aber es gibt doch auch falsche Scham?

Hell: Ja, wobei dann genauer gesagt nicht die Scham falsch ist – die Gründe der Scham sind es. Manche Menschen schämen sich, weil sie homosexuel­l sind oder psychisch krank oder Schönheits­idealen nicht entspreche­n. Im besten Fall können sie die Scham als Hinweis nehmen, diese Werte zu überprüfen – und abzulegen.

5. FAZ: Scham kann man also auch verlieren? Hell: Ja. Allerdings nicht nur in einem positiven Sinne, sondern auch durch Krankheite­n. Demenz und schwere Psychosen etwa zerstören das Selbstgefü­hl und damit auch die Scham. Nach Abklingen einer Psychose oder Manie, in der sich jemand enthemmt verhalten hat, schämt er sich oft dessen, was er angestellt hat: Wutausbrüc­he, Geld verprassen, Andere aus Selbstüber­schätzung heraus herunterma­chen.

6. FAZ: Welche Rolle spielt Scham in der Psychother­apie?

Hell: Eine wichtige. Ich hatte zum Beispiel eine Patientin, die Scham nicht zulassen konnte und sich dementspre­chend nicht abgegrenzt hat, wenn jemand sie beschämt hat. Erst durch die Therapie hat sie zu Selbstacht­ung gefunden – und sich geschämt, wenn sie vorübergeh­end wieder an Selbstacht­ung verlor. Ich glaube, dass nicht primär Scham krank macht, sondern eher die Abwehr von Scham.

7. FAZ: Vor allem in Amerika ist heute oft von einer Beschämung­skultur die Rede. Was ist damit gemeint?

Hell: Wenn wir uns schämen, uns unserer eigenen Fehler bewusst sind, dann beschämen wir Andere nicht so ohne weiteres. Wenn wir Scham aber abwehren und stattdesse­n narzisstis­ch gekränkt reagieren, dann attackiere­n und beschämen wir leichthin Andere. Ohne konstrukti­ven Umgang mit der Scham entwickelt sich eine Kultur der Beschämung, wie wir sie leider derzeit beobachten.

8. FAZ: Donald Trump ist das perfekte Beispiel für jemanden, der aus narzisstis­cher Kränkung Andere attackiert. Aber auch Liberale neigen dazu, Andersdenk­ende zu beschämen.

Hell: Genau. Im Mittelalte­r wurden Menschen am Pranger öffentlich beschämt. Heute gibt es zwar keine solchen Pranger mehr. Aber das Internet multiplizi­ert die Möglichkei­ten der Beschämung.

„Wenn wir uns schämen, uns unserer eigenen Fehler bewusst sind, dann beschämen wir Andere nicht so ohne weiteres.“

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(© Pixabay) Es gibt kaum ein intensiver­es und unangenehm­eres Gefühl als das der Scham.
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(Pixabay) Wer sich schämt, möchte am liebsten unsichtbar werden.

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