„Wenn Beethoven zur Tür reinkäme, würde ich erstmal fluchen“
“Si Beethoven passait la porte, je commencerais par jurer”
Igor Levit est l’un des plus grands pianistes de notre époque et un spécialiste de Beethoven.
Igor Levit est l’un des plus grands pianistes de notre époque et un spécialiste de Beethoven, dont il vient d’enregistrer l’intégrale des sonates pour piano chez Sony. En décembre, il s’est vu décerner le prix international Beethoven. Dans les colonnes du Tagesspiegel, il se confie sur son rapport avec le répertoire de son compositeur préféré.
Citizen. European. Pianist“: So lautet die Selbstbeschreibung von Igor Levit auf seiner Webseite. Der Musiker, Jahrgang 1987, ist einer der bedeutendsten Klavierspieler seiner Generation. Levits CDDebüt mit Beethovens fünf späten Sonaten ist 2013 erschienen. Im September 2019 erschein bei Sony sein fünftes Album mit allen Beethoven-Sonaten.
2. Tagesspiegel: Herr Levit, mit Beethoven und Ihnen fing es an, als Sie 13 waren und die „Missa Solemnis” hörten. Was ist da geschehen?
Igor Levit: Es hat mich überwältigt. Vielleicht war ich auch 14, jedenfalls kein Alter, in dem man auf Oratorien abfährt. Die Aufnahme mit John Eliot Gardiner hörte ich ständig und
spielte den Klavierauszug, ich konnte nicht genug davon bekommen. Zur gleichen Zeit brachte EMI die schönen LP-Boxen mit Celibidache-Live-Mitschnitten heraus. Bei Bruckners Achter war ein Berg auf dem Cover; das war die erste Symphonie, die mich weggefegt hat. Beides waren körperliche Initiationserlebnisse. Ob wilde Beethoven-Fugen oder Detroit-HipHop, ich fühlte mich verstanden. Weil da einer mit sich ringt, auch das Pathos gefiel mir. Blöd gesagt, es war einfach laut. Es ging mir rein wie ein Messer.
3. Tagesspiegel: Mögen Sie das an Beethoven bis heute?
Levit: Dass er laut ist? Nein, dass er alles ist. Und so wunderbar barrierefrei. Ich überlege nicht stundenlang, wie und aus welchem
Winkel heraus man einen Ton kreiert. Ich drücke auf die Taste, plopp, und sehe, wohin es mich führt. Das geschieht dann wieder sehr bewusst. Ich oktroyiere meinem Instrument nichts auf, ich spiele lieber mit ihm, deshalb kommt mir Beethovens Unmittelbarkeit entgegen. Manchmal komponiert er geradezu gegen das Klavier.
4. Tagesspiegel: Wie, dagegen?
Levit: Seine Musik geht über das Instrument hinaus, sie ist orchestral und macht mich glauben, ich spiele mehr als nur Klavier. Dann
bin ich Posaune, bin Gewalt, Verzweiflung, Einsamkeit und vieles mehr.
5. Tagesspiegel: Studieren Sie die Originalnoten?
Levit: Ich habe alle Beethoven-Autografe, die es gibt. Auch die „Missa Solemnis“, ein Riesenbuch, es war grotesk teuer. Ich war ganz aufgeregt, als ich es auspackte, schlug gleich das „Benedictus“auf, diese heilige Musik. Dann rief ich erst mal einen Freund an: Beethoven hatte eine Sauklaue, unmöglich! Ich betreibe erst mal weniger Quellenstudium, als dass ich dieses Gesamtkunstwerk wahrnehme. Ich sehe die Emotion. Die Frage, ob Wachsflecken auf dem Papier sind, weil er nachts komponierte, kommt erst später dazu. Auch die Sonaten sind wild notiert, er streicht und überschreibt Sachen dreifach, vierfach, bis kaum noch Papier da ist. Seine Schrift ist das pure Leben, wie seine Musik.
6. Tagesspiegel: Sie sagen, Beethoven ist immer um Sie herum, 24/7. Worüber würden Sie mit ihm reden, wenn er jetzt zur Tür reinkäme? Levit: Das ist hypothetisch, Beethoven ist nicht mein Zeitgenosse. Aber sein Werk ist mein
Partner, dieses Dokument, das er hinterlassen hat. Ich interessiere mich brennend für das Biografische, habe alles über ihn gelesen und mir alles über ihn erzählen lassen. Aber es sind nur 50 Prozent. Die anderen 50 Prozent, das ist heute, das bin ich. Aus diesem Geist spiele ich.
7. Tagesspiegel: Welche Sonate ist Ihnen inzwischen am nächsten?
Levit: Alle. Und die Waldstein- und die Hammerklavier-Sonate. Es gibt in der Klaviermusik eine Zeit vor und nach der Waldstein-Sonate. Das Spannungsfeld zwischen dem Ich und dem Orchestralen findet sich zwar schon vorher, in der Pathétique oder den Sonaten op. 31. Aber die gestalterische Erfahrung ist mit nichts davor zu vergleichen. Dieses Stück ist eine Lebenserfahrung, eine plastische Erzählung, eine Freiheitsexplosion. Danach sind sogar die kleinsten, kürzeren Sonaten explosiv.
8. Tagesspiegel: Gibt es auch welche, die Sie immer wieder befremden?
Levit: Wirklich fremd ist mir eigentlich keine mehr, auch wenn es extrem unangenehm zu
Spielendes gibt. Der erste Satz von op. 31 Nr. 3 zum Beispiel, da bewegt man sich auf sehr dünnem Eis. Und manche Sonaten kosten viel Mühe, Hammerklavier natürlich. Wenn Beethoven tatsächlich zur Tür reinkäme, würde ich erst mal fluchen. Aber meine Erfahrung mit Komponisten-Reaktionen auf die Frage „Hast du sie noch alle?“ist nicht die allerbeste.
9. Tagesspiegel: Mondscheinsonate, Appassionata, jeder kennt sie, und sei es als Melodie aus der Werbung. Möchten Sie die unbekannteren Sonaten gern mehr in den Fokus rücken?
Levit: Keine der 32 Sonaten kann sich beschweren, zu wenig gespielt zu werden. Da bin ich eher auf Mission für wirklich unbekannte Komponisten. Es ist mir ein Rätsel, warum viele Pianisten immer das gleiche Repertoire spielen. Wir sind doch auch selbst verantwortlich für die Programme, es sind nicht die angeblich bösen Konzertveranstalter und Plattenfirmen.
10. Tagesspiegel: Beethoven ist Kernrepertoire. Wie gehen Sie mit den Klischees um?
Levit: Ich habe mein Konzertexamen mit „Für Elise“beendet! Es ist mir egal. Am Ende bin ich auf mich selbst zurückgeworfen, spiele für mich und teile es mit anderen.
11. Tagesspiegel: Und der Streit über einzelne Stücke? Für Ludwig Rellstab war der erste Satz der Mondscheinsonate eine nächtliche
Bootsfahrt auf dem Vierwaldstätter See, pure Romantik. Für andere ist es eine Totenmesse. Levit: Für mich ist es an manchen Tagen einfach ein böses Stück. Ich gehe nicht auf die Bühne und versuche, die Erwartungshaltung gegenüber dem Schlager Mondscheinsonate zu erfüllen.
12. Tagesspiegel: Beethoven nahm sich viele Freiheiten. Schon die Anfänge, die wie aus dem Nichts kommen, etwa bei der Sturm-Sonate. Levit: Da ist nur Klang oder Geräusch, scheinbar unstrukturiert, viele Sonaten fangen so an. Er war ein großer Improvisator, aber trotzdem sehr genau. Es ist am Ende immer sehr klar strukturiert. Auch bei den Vortragsbezeichnungen versuchte Beethoven, aus terminologischen Käfigen auszubrechen. Was bitte heißt „dämmernd“im 5. Klavierkonzert? Oder „espressivo e semplice“beim Rezitativ in der Sturmsonate, ist das nicht unvereinbar? Oder „Mit innigster Empfindung“? Wer behauptet, er spiele exakt, was in den Noten steht, ist überheblich. Ich weiß nicht, was Beethoven will. Ich versuche nur, es zu verstehen.
„Er war ein großer Improvisator, aber trotzdem sehr genau.“
13. Tagesspiegel: Sie spielen die Sonaten seit 15 Jahren. Was spielen Sie anders als früher?
Levit: Alles. Mein Leben hat sich verändert, ich kenne mich selber besser, mit meinen Unsicherheiten, Ängsten und Zweifeln, bin selber unmittelbarer geworden. Es lässt sich schwer präzisieren: Bis heute spiele ich nicht leise, wo Beethoven „laut“will. Aber ich spiele mehr mein „laut“.