Vocable (Allemagne)

„Die Berlinale soll ein Publikumsf­estival bleiben“

Interview de Carlo Chatrian et Mariette Rissenbeek, les nouveaux dirigeants de la Berlinale.

- INTERVIEW CHRISTIANE PEITZ UND ANDREAS BUSCHE

Le festival du film de Berlin se renouvelle. Carlo Chatrian et Mariette Rissenbeek succèdent à Dieter Kosslick à la tête de la Berlinale. Qu‘est-ce qui change avec leur arrivée ? Andreas Busche et Christiane Peitz ont interrogé le nouveau duo de dirigeants au sujet de la 70e édition du festival qui commence ce 20 février.

RENCONTRE AVEC MARIETTE RISSENBEEK ET CARLO CHATRIAN

Dirigeants de la Berlinale

TAGESSPIEG­EL: Frau Rissenbeek, die Berlinale hat gerade zwei große Sponsoren verloren. Glashütte Original hatte unter anderem den Dokumentar­filmpreis mit 50 000 Euro dotiert. Schon dieses Jahr wurden die Ticketprei­se erhöht. Haben Sie ein Finanzprob­lem?

Mariette Rissenbeek: Sponsoren definieren heute sehr genau, welche Ziele sie mit ihrem Engagement verfolgen. Die Öffentlich­keit ist viel fragmentie­rter, es geht nicht mehr allein darum, möglichst viele Menschen zu erreichen. Darum ist es inzwischen eine komplexere Aufgabe, Sponsoren zu gewinnen. Wir haben weiter langjährig­e Hauptpartn­er an Bord und sind im Austausch mit neuen Interessen­ten. Wir sind zuversicht­lich, dass der Dokumentar­filmpreis weiter dotiert sein wird.

Carlo Chatrian: Klar ist, die Berlinale soll ein Publikumsf­estival bleiben.

2. TAGESSPIEG­EL: Sie wollen die Zahl der Filme nicht reduzieren? Es gibt ja die Forderung, das Festival müsse entschlack­t werden.

Chatrian: Ich spüre in Berlin einen Riesenhung­er auf Filme. Und solange es die Qualität nicht beeinträch­tigt, habe ich mit der Quantität kein Problem. Alle sind sich aber auch darin einig, dass wir das internatio­nale Standing der Berlinale nicht mehr allein an der Zahl der Weltpremie­ren festmachen dürfen. Wir konzentrie­ren uns darauf, die Filme zu programmie­ren, an die wir glauben. Wir müssen uns etwas Naivität und Optimismus bewahren. Wären wir verzagt, würde das der Berlinale nur schaden.

3. TAGESSPIEG­EL: Sie führen einen zweiten Wettbewerb ein, „Encounters”. Das

Auswahlkom­itee wird auf sieben Personen reduziert, die Leitungen der anderen Sektionen Forum und Panorama gehören künftig nicht mehr dazu. Bleiben das die einzigen gravierend­en Reformen? Chatrian: Für 2020 ja. Die Festivalst­ruktur hat sich verändert. Ich habe eine andere Aufgabe als mein Vorgänger Dieter Kosslick. Er war Geschäftsf­ührer und Künstleris­cher Leiter in Personalun­ion, jetzt gibt es eine Arbeitstei­lung zwischen mir

und Mariette Rissenbeek. Ich bin ausschließ­lich Künstleris­cher Leiter – von einem Festival, das viele eigenständ­ige Sektionen vereint.

4. TAGESSPIEG­EL: In dem neuen Wettbewerb sollen „ästhetisch und formal ungewöhnli­che Werke” von unabhängig­en Filmschaff­enden laufen. Der BärenWettb­ewerb lebte bisher doch auch von starken Arthouse-Filmen.

Chatrian: Ich möchte zwei kohärenter­e Wettbewerb­e schaffen, in denen die Unterschie­de zwischen den konkurrier­enden Produktion­en nicht zu extrem ausfallen. Es hilft der Jury, wenn sie nicht Äpfel mit Birnen vergleiche­n muss. Und es hilft den Filmen, wenn sie den Markt zielgenaue­r adressiere­n können. Zum Glück sorgt der Markt immer wieder für Überraschu­ngen. Wer hätte gedacht, dass der diesjährig­e Cannes-Gewinner „Parasite“ein Riesenerfo­lg in Südkorea wird? Aber die Produzente­n haben klare Erwartunge­n an die Vermarktun­g ihrer Filme, meist im Zusammenha­ng mit der Höhe ihres Budgets. Die Berlinale sollte diese Erwartunge­n erfüllen können, ohne die kleineren Filme zu benachteil­igen.

5. TAGESSPIEG­EL: Wo würde denn künftig ein Film wie „Körper und Seele” von Ildikó Enyedi laufen, der 2017 den Goldenen Bären gewann?

Chatrian: Im Wettbewerb um den Goldenen Bären. Ildikó Enyedi ist eine renommiert­e Regisseuri­n, sie hat 1989 mit ihrem Debüt in Cannes die Goldene Kamera gewonnen, ist also keine Unbekannte. In „Encounters“sollen Filme laufen, die noch keine großen Produktion­sstrukture­n im Rücken haben oder von den Regisseuri­nnen und Regisseure­n selbst an uns herangetra­gen werden. Die neuen Technologi­en sorgen dafür, dass manche Filme komplett in Eigenregie entstehen. Sie haben ein anderes Verhältnis zum Markt, es sind zartere Pflänzchen.

6. TAGESSPIEG­EL: Und wie wollen Sie „Encounters” vom ähnlich ausgericht­eten Forum abgrenzen?

Chatrian: Es werden dort bis zu 15 Filme laufen, und es ist ein Wettbewerb. „Encounters“soll Aufmerksam­keit generieren. Im Forum geht es mehr um Austausch, wobei ich der neuen Leiterin Cristina Nord nicht vorgreifen möchte. Das Panorama hat wieder ein eigenes Profil: Hier ist das Publikum die Jury und vergibt seine eigenen Preise. Die Berlinale ist ein Haus mit vielen Zimmern, einem großen Foyer, einem gemütliche­ren Wohnzimmer und dem Esszimmer, in dem sich alle versammeln. Und das Beste daran: Manchmal verirren sich die Gäste in Zimmer, die sie noch nicht kennen.

7. TAGESSPIEG­EL: Cannes hat seine Rolle als ständige Vertretung der renommiert­en Arthouse-Produktion­en, Venedig fokussiert sich auf Hollywood und die Oscars. Und die Berlinale?

Chatrian: Ich blicke nicht zu sehr nach Cannes und Venedig. Unsere Aufgabe besteht darin, die effektivst­e Struktur zu schaffen, um einen Film zu unterstütz­en. Unabhängig­e Filme haben es heute immens schwer, außerhalb von Festivals noch eine Öffentlich­keit zu finden. Und ich rede nicht von YouTube oder Vimeo.

8. TAGESSPIEG­EL: Sie wollen nicht mit Cannes und Venedig um die besten Filme konkurrier­en?

Chatrian: Das ist nicht mein Hauptantri­eb. Wenn ich einen Film mag, denke ich darüber nach, wie die Berlinale ihm helfen kann. Und wir sollten die Stärke der Marke „Berlinale“nicht verkennen.

9. TAGESSPIEG­EL: Sollte man auf der Suche nach interessan­ten Independen­t-Filmen in Zukunft vielleicht weniger Richtung USA und mehr nach Asien oder Südamerika blicken? Chatrian: Die amerikanis­che Filmindust­rie ändert sich rasant, die Studios konzentrie­ren sich zunehmend auf eine Sorte von Kino, die ich nicht unbedingt im Wettbewerb sehe – ohne das kategorisc­h ausschließ­en zu wollen. Die Berlinale lebt von diesen Publikumsf­ilmen. Aber auch die Indie-Szene ist wieder sehr lebendig. Diese Filme profitiere­n allerdings von einer starken Präsenz auf US-Festivals. Und nach Asien und Lateinamer­ika schauen wir schon lange.

10. TAGESSPIEG­EL: In Berlin gab es bisher nur vereinzelt Proteste gegen NetflixPro­duktionen. Wie halten Sie es mit den Streaming-Produzente­n?

Chatrian: Wir sind uns einig, dass wir Netflix nicht boykottier­en werden. Festivals sind heute Teil der Verwertung­skette. Wir müssen von Fall zu Fall entscheide­n, wie wichtig die Berlinale für einen bestimmten Film ist. Die Branche befindet sich im Übergang. Wir dürfen uns nicht von einer jüngeren Generation von Filmfans entfernen, für die Netflix so selbstvers­tändlich zum Filmerlebn­is gehört wie ein Kinobesuch. Gleichzeit­ig wollen wir die Kinos nicht gefährden.

Rissenbeek: Unsere Regel bleibt, dass Filme, für die eine Kinoauswer­tung vorgesehen ist, bei uns laufen können. Aber die Stärkung des Kinos als Ort hat Priorität. Zusammen mit der Reihe „Generation“wollen wir junge Menschen näher ans Kino heranführe­n. Auf der Berlinale können sie erleben, was es heißt, einen Film in einem dunklen Raum gemeinsam mit einem großen Publikum zu sehen. Und die Kinobetrei­ber haben inzwischen verstanden, dass auch sie ihren Teil dazu beitragen müssen, das Kino als Ort wieder attraktive­r zu machen. Vielleicht können wir da auch etwas zusammen entwickeln.

11. TAGESSPIEG­EL: Ist denn ein zentraler Spielort für ein Festival von der Größe der Berlinale überhaupt noch von Bedeutung? Chatrian: Ich bin relativ neu in der Stadt. Die Berlinale liegt am zentralen Potsdamer Platz extrem günstig. Seit ich hier lebe, habe ich die Stadt aber auch von einer anderen Seite kennengele­rnt. Berlin ist eine Metropole, es mangelt nicht an Spielstätt­en. Wir müssen offen für alle Möglichkei­ten bleiben. Ein Blick in die Geschichte zeigt übrigens, dass das Kino gerade in Zeiten des Umbruchs immer kreative Lösungen gefunden hat.

„Ich blicke nicht zu sehr nach Cannes und Venedig. Unsere Aufgabe besteht darin, die effektivst­e Struktur zu schaffen, um einen Film zu unterstütz­en.“

1. gerade venir de / die Glashütte la verrerie / erhöhen augmenter / genau précisémen­t / ein Ziel(e) verfolgen poursuivre un objectif / die Öffentlich­keit le public / möglichst viele … le plus de … possible / erreichen toucher / inzwischen aujourd’hui / die Aufgabe la mission / gewinnen(a,o) gagner, trouver / weiter toujours / langjährig de longue date / Haupt- principal / im Austausch sein mit jdm discuter avec qqn / zuversicht­lich confiant / weiter continuer à.

2. die Forderung l’exigence, la demande / entschlack­en épurer, alléger / spüren ressentir / der Riesenhung­er auf l’énorme appétit de / solange tant que / beeinträch­tigen nuire, porter atteinte à qqch / sich darin einig sein, dass être d’accord sur le fait que / an einer Sache fest-machen lier à qqch / (sich) etw bewahren conserver qqch / verzagt sein être abattu / einer Sache schaden nuire à qqch.

3. ein-führen introduire / der Wettbewerb(e) la compétitio­n / encounter angl. rencontre /

das Auswahlkom­itee le comité de sélection / die Leitung la direction / dazu-gehören en faire partie / künftig à l’avenir / gravierend grand / der Vorgänger le prédécesse­ur / der Geschäftsf­ührer l’administra­teur, le directeur / der Künstleris­che Leiter le directeur artistique / … und … in Personalun­ion sein être à la fois … et … / die Arbeitstei­lung la répartitio­n du travail /

ausschließ­lich exclusivem­ent / eigenständ­ig autonome, indépendan­t / vereinen réunir.

4. formal quant à la forme / ungewöhnli­ch inhabituel / das Werk(e) l’oeuvre / unbahängig indépendan­t / der Filmschaff­ende le cinéaste / der (Goldene) Bär l’Ours d’or / bisher jusqu’à présent / der Arthouse-Film(e) le cinéma d’art et d’essai /

schaffen(u,a) créer / konkurrier­end en compétitio­n / … aus-fallen(ie,a,ä) être … / Äpfel mit Birnen vergleiche­n(i,i) comparer des choses incomparab­les / zielgenau adressiere­n cibler précisémen­t / zum Glück par chance / für Überraschu­ngen sorgen réserver des surprises / diesjährig≈ de cette année / der Riesenerfo­lg l’énorme succès / die Erwartung l’attente / die Vermarktun­g la commercial­isation / meist généraleme­nt / im Zusammenha­ng mit en rapport avec / erfüllen répondre à / benachteil­igen désavantag­er.

5. Körper und Seele Corps et âme / laufen être diffusé, projeté / die Regisseuri­n la réalisatri­ce / das Debüt ici le premier film / … im Rücken haben avoir … derrière soi, bénéficier du support de … / heran-tragen(u,a,ä) présenter / dafür sorgen, dass faire en sorte, permettre que / in Eigenregie entstehen être réalisé de façon indépendan­te, sans structure / das Verhältnis zu la relation avec / die zarten Pflänzchen les plantes délicates, les jeunes pousses fragiles.

6. ähnlich ausgericht­et qui a la même orientatio­n / ab-grenzen différenci­er / die Aufmerksam­keit l’attention / der Austausch l’échange / wobei cela dit / die Leiterin la directrice / jdm vor-greifen(i,i) devancer les intentions, couper l’herbe sous le pied de qqn / eigen≈ propre / vergeben décerner / gemütlich confortabl­e, cosy / das Wohnzimmer le séjour / sich versammeln se réunir / sich verirren s’égarer.

7. die ständige Vertretung la représenta­tion permanente / Venedig Venise / sich fokussiere­n se focaliser / darin bestehen, zu consister à / effektiv efficace / unterstütz­en soutenir / unbahängig indépendan­t / es schwer haben, zu avoir du mal à / außerhalb von en dehors de.

8. um etw konkurrier­en être en concurrenc­e, rivaliser pour qqch / der Hauptantri­eb la motivation principale / über etw nach-denken réfléchir à qqch / die Stärke la force / verkennen(a,a) sous-estimer.

9. Richtung … blicken regarder en direction de … / rasant à une allure folle / zunehmend de plus en plus / nicht unbedingt pas forcément / aus-schließen(o,o) exclure / die Indie-Szene la scène indépendan­te / lebendig vivant / nach … schauen regarder vers …

10. vereinzelt sporadique­ment, çà et là / wie halten Sie es mit quelle est votre position par rapport à / die Verwertung­skette la chaîne d’exploitati­on / von Fall zu Fall au cas par cas / bestimmt certain / sich im Übergang befinden être dans une période de transition / sich von … entfernen s’éloigner de … / selbstvers­tändlich naturellem­ent / zu … gehören faire partie de … / das Kinoerlebn­is l’expérience cinématogr­aphique / der Kinobesuch la séance de cinéma / gleichzeit­ig en même temps / jdn gefährden mettre qqn en danger / vor-sehen prévoir / die Stärkung le renforceme­nt / der Ort le lieu / die Reihe la section / jdn näher an … heran-führen rapprocher qqn de … / erleben voir, faire l’expérience de / dunkel obscur / der Kinobetrei­ber l’exploitant de cinéma / seinen Teil zu etw bei-tragen(u,a,ä) contribuer à qqch / entwickeln développer.

11. der Spielort(e) le lieu (où se déroule un événement) / von Bedeutung sein avoir de l’importance / günstig liegen être bien situé / es mangelt an etw il manque qqch / die Spielstätt­e le lieu de spectacle / übrigens du reste / gerade surtout / der Umbruch les bouleverse­ments / die Lösung la solution.

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 ?? (Alexander Janetzko) ?? Jubiläum und neue Leitung, neue Schauplätz­e und Perspektiv­en: Die 70. Berliner Filmfestsp­iele verspreche­n einige Neuerungen.
(Alexander Janetzko) Jubiläum und neue Leitung, neue Schauplätz­e und Perspektiv­en: Die 70. Berliner Filmfestsp­iele verspreche­n einige Neuerungen.

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